
24/05/2022 – Autor: Christian Elia
Auf dem kürzlich in Turin stattgefundenen Salone del Libro wurde der Roman „Frei. Groß werden am Ende der Geschichte“ vorgestellt. Den bei Feltrinelli herausgegebene Roman schrieb die albanische Philosophin Lea Ypi. Das Buch schrieb die Dozentin an der London School of Economics für sich selbst, für ihre Familie und für die -noch gespaltene – Erinnerung ihres Landes.
Menschenmassen überfluten die Hauptstraße zwischen dem Skanderbegplatz und der Universität von Tirana. Sie flüchtet sich in die Seitenstraßen vor den Angriffen eine Polizei, die immer weniger von ihrer Rolle überzeugt ist. Ein Mädchen gerät nach der Schule inmitten dieses Tumults im Tirana von 1990. Es ist der Beginn der Studentenproteste für bessere Lebensbedingungen, die sich dann gegen die Partei ausweiteten, die seit 1944 an der Macht war. Das Mädchen hat drei Fluchtwege zur Auswahl und gerät schließlich zwischen die Beine der gerade von Demonstranten enthaupteten Bronzestatue von Stalin.
So beginnt der Memoiren-Roman „Frei. Groß werden am Ende der Geschichte“ von Lea Ypi der im Verlag Feltrinelli in italienischer Übersetzung veröffentlicht wurde. Die Wahl des Kindes scheint eine Metapher für die Wahl Albaniens nach dem Sturz des Regimes. Aber hatte sie diese wirklich? Das Buch verfasste die Politikphilosophin, die an der London School of Economics lehrt, für sich selbst, für ihre Familie und für die – noch gespaltene – Erinnerung ihres Landes.
Ihr Buch ist ebenfalls eine grandiose Überlegung zum Wert der Freiheit, das sofort begrüßt wurde durch einen großen Erfolg der Leserschaft, durch die Kritik in Großbritannien und im Ausland und durch die lebhaften Diskussionen in Albanien selbst. Die Autorin, die für ihr erstes Buch, das in 17 Sprachen übersetzt wurde, mehrere Preise erhielt, wurde in den sozialen Medien angegriffen. Am meisten kam der Vorwurf, sie habe das Regime rehabilitieren wollen, andere warfen ihr vor, die Gewalttätigkeiten des Regimes Enver Hoxha, der das kleine Land an der Adria in ein Open-Air Gefängnis verwandelte, nicht selbst erlitten zu haben. Weder das eine, noch das andere ist richtig. Aber in Albanien stößt jeder Versuch, mit klarem Verstand über die Jahre des Übergangs zu räsonieren, auf eine Mauer der Verweigerung, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
Das Buch ist derart interessant. Sosehr, dass die Personen, die es beschreibt, zu perfekt erscheinen, um wahr zu sein. Die Großmutter Nini, Tochter ottomanischer Würdenträger, ist eine typische Figur des kosmopolitischen Balkans in Zeiten des Imperiums. Der Vater liebäugelt mit den Brigate Rosse und dem Verlag Feltrinelli. Die Mutter ist eine Exponentin der kompromittierten nationalistischen Bourgeoisie, durch die italienische Besetzung völlig enteignet und nach Liberalismus dürstend. Es scheint, dass jedes Familienmitglied seinen Teil dazu beiträgt, einen Aspekt der komplexen Geschichte Albaniens zu erzählen. Und nun zu dieser Komplexität.
Im Wechsel von Ironie und Wehmut, lokaler und globaler Draufsicht, politischer Analyse und täglichem Leben im Albanien ihrer Kindheit uund Jugend (Das Buch endet Ende der Neunziger Jahre mit der Migration der Autorin. Ypi gelingt es in glänzender und einfacher Weise eine Erzählung zu generieren, mehr noch, die Selbsterzählung eines ganzen Volkes. Sie reicht vom Zusammenfügen der alten Elemente des Regimes bis zum misteriösen Verschwinden der gefürchteten Agenten der politischen Polizei Sigurimibis bis zu den wilden Privatisierungen während des Bürgerkriegs – der als albanische Anarchie bezeichnet wird – nach dem Kollaps der Finanzpyramiden und der Massenemigration nach Italien. Ypi liefert schließlich eine neue und kritische Sicht auf ein Jahrzehnt, das in der ganzen Region kein gleichartigen Beispiele kennt. Der ökonomische Übergang, die ‚Schocktherapie‘, der Liberalismus mit seinen unterschiedlichsten Experten von der Weltbank wie auch den NRO’s, bringen die Autorin dazu über das Konzept der Freiheit aus einer humanen politisch-ökonomischen Sichtweise zu reflektieren.
Das Regime erhält keine Absolution. Im Gegenteil, gerade ihre Familie zahlte den Peis für eine Biographie, im Falle der Autorin Nachkomme jenes Xhafer Ypi zu sein, der im 2. Weltkrieg mit den italienischen Okkupanten kollaborierte. Es wird auch erzählt, wie solche Familien im Alltag von Dingen zerrieben wurden, die nicht gesagt werden konnten, durch Kommunikationscodes, durch persönliche und kollektive Repressionen, die die Beziehungen von drei Generationen von Albanern geprägt haben. Mit diesen Aspekten rechnet die Autorin ab, auch wenn sie zumeist den ironischen Ton eines im Realsozialismus, von der diensteifrigen Lehrerin Nora, ausgebildeten Kindes einschlägt
Ihre interessantesten Überlegungen sind nicht partiell, sondern komplex. So beschränkt sich die politische Philosophin nicht auf ihre Erinnerung, sondern sie arbeitet sich an ihnen ab. Jene Albaner, die sie in den sozialen Medien beschimpfen, haben damit immer noch ihre Mühe, vor allem Respekt vor der eigenen Geschichte zu haben. Ein Regime zu stürzen bedeutet nicht unbedingt, eines der schlechtesten Systeme der Welt zu schaffen, was die Rechte der Arbeiter, den Raub am Gemeinwohl, das Entstehen undurchsichtiger Vermögen, die nicht kriminellen Ursprung haben, betrifft.
Ihre interessantesten Überlegungen sind nicht partiell, sondern komplex. So beschränkt sich die politische Philosophin nicht auf ihre Erinnerung, sondern sie arbeitet sich an ihnen ab. Jene Albaner, die sie in den sozialen Medien beschimpfen, haben damit immer noch ihre Mühe, vor allem, Respekt vor der eigenen Geschichte zu haben. Ein Regime zu stürzen bedeutet nicht unbedingt, eines der schlechtesten Systeme der Welt zu schaffen, was die Rechte der Arbeiter, den Raub am Gemeinwohl, das Entstehen undurchsichtiger Vermögen, die nicht kriminellen Ursprung haben, betrifft. Um das zu vereinfachen, beschreibt Ypi nach der Maxime, die ihrer Großmutter Nini gefallen würde, wie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde. Originell ist auch ihr Blick auf Italien, das viele Albaner immer noch verherrlichen, obwohl die Flüchtlinge zu Tausenden im Stadion von Bari eingesperrt wurden und obwohl 1997 ein Schiff mit Frauen und Kinder an Bord versenkt wurde.
Ihre Schreibweise ist bestechend, ihre Sichtweise scharf und polemisch, jedoch nie rhetorisch. „Sie sagten uns, die Diktatur des Proletariats wäre immer durch die Bourgeoisie bedroht“, schreibt Ypi. „Aber niemand dachte, dass das erste Opfer des Konflikts – ein klares Zeichen des Siegs – gerade das Verschwinden der Worte Diktatur, Proletariat, Bourgeoisie gewesen ist. Sie gehörten nicht mehr zu unserem Vokabular. Bevor der Staat verschwand, verschwand seine Sprache. Den Sozialismus, die Gesellschaft, in der wir gelebt hatten, gab es nicht mehr. Den Kommunismus, die Gesellschaft, die wir zu schaffen strebten, die Welt, die der Klassenkampf befreite und in der man sich voll einbringen konnte, hatte sich aufgelöst. Es bedeutete nicht nur die Auflösung eines Ideals oder eines Regierungssystems, sondern auch der Kategorien des Denkens. Übrig blieb ein einziges Wort: Freiheit.“
Aber was für eine Freiheit? War sie jene, welche die westlichen Diplomaten in den neunziger Jahren versprachen, die, nachdem sie mit den Menschenmassen konfrontiert wurden, die Teil der Freiheit werden wollten, von der sie sprachen, die Grenzen schlossen und militarisierten, die Grenzen tödlich machten?
Oder war es die Freiheit derer, die das Land zerfallen ließen? Sie waren gleichgültige Zuschauer oder Komplizen des Kollapses der Ökonomie. War sie also die der kompromittierten leitenden Klasse und der bewaffneten Clans, die sich auf Kosten der Albaner bereicherten? Ypi stellt Fragen, wie sie es als Kind, als Jugendliche getan hat und die als Forscherin und jetzt als Schriftstellerin nicht damit aufgehört hat. Die grundsätzliche Frage am Ende, scheint an jene gerichtet, die in den neunziger Jahren mit ihren liberalistischen Rezepten kamen. Sie behandelten den Balkan nach lateinamerikanischen kolonialen Muster. In vielen anderen Ländern, wie Ostdeutschland und Jugoslawien, die es nicht mehr gibt, oder anderen, die den grausamen Übergang zum Liberalismus erlebt haben, gibt es seit einiger Zeit darüber eine sehr reichhaltige Erzählung. In Albanien gab es diesbezüglich keine speziellen Texte, welche die Folgen des Zusammenbruchs des Regimes reflektierten und die persönliche Geschichte mit der kollektiven kombinierte. Die Kontroversen in Albanien, sowie der Erfolg des Buches im Ausland zeigen, dass dies notwendig war.
Buchbesprechung in den Medien
