Gegen die Schädlichkeit! Operaismus und Ökologie der 68iger Jahre

Titelbild Enzo Manderino: Porto Marghera (Venedig), petrochemischer Phosgenaustritt

Einleitende Anmerkungen

Autor: Lorenzo Feltrin,

Quelle: http://effimera.org/contro-la-nocivita-operaismo-ed-ecologia-nel-lungo-68/

Kürzlich erschien das Buch von Gianni Sbrogiò, Klassenautonomie im Porto Marghera: Kämpfe und politische Wege in den sechziger und siebziger Jahren (Agenzia X, 2022). Es enthält eine aktualisierte Version verschiedener Materialien bietet, die bereits in When power is worker: Autonomy and Political Subjectivity in Porto Marghera (1960-1980), bei Manifestolibri, von Devi Sacchetto und Gianni Sbrogiò veröffentlicht wurden. Es wurden auch alle Ausgaben von Lavoro zero und Controlavoro, der Zeitschrift wie auch den Bekanntmachungen der operaistischen Gruppe des Porto Marghera online gestellt (zur Seite, italienisch).[I] Es ist also ein geeigneter Anlass, den Text Gegen die Schädlichkeit, im Netz zu veröffentlichen.

Der Text wurde unterzeichnet vom politischen Ausschuss der Arbeiter des Porto Marghera und am 28. Februar 1971 auf dem Arbeiterkongress Venetien im Marconi Kino in Mestre vorgetragen. Der politische Ausschuss war ein Bündnis lokaler Gruppierungen von Potere operaia und il Manifesto. Der Beitrag selbst ist ein Dokument zur Theorie und Praxis gegen die Schädlichkeit, die von der operaistischen Gruppe des Porto Marghera entwickelt wurde. [II]

Die Ursprünge der Gruppe reichen bis in die frühen 1960er Jahre zurück, als sich Intellektuelle und Studenten mit Arbeitern aus Padua und Venedig trafen, die der Kommunistischen Partei Italiens und dem Gewerkschaftsbund CGIL kritisch gegenüberstanden. Porto Maghera war der Kontext von Theoretiker wie Antonio Negri, Mariarosa Dalla Costa und Massimo Caciari machten die ersten theretischen Schritte, die sie bekannt machten. Jedoch die Reflektionen der Aktivisten in der Fabrik sind in Vergessenheit geraten. Dabei handelt es sich um Erfahrungen, die bemerkenswert sind, denn ab 1968 widersetzten sich Arbeiter und Angestellte offen der zunehmenden Umweltverschmutzung, die von ihrem Arbeitsplatz ausging.

Die Hochburg der operaistischen Gruppe von Porto Marghera war der petrochemische Betrieb Montedison.[III] Die Organisation war aber auch in anderen Firmen präsent, so bei la Châtillon und L’AMMI. Die herausragende Person zur Theoriebildung war der Techniker Augusto Finzi, der 1941 in einer jüdisch venezianischen Familie geboren wurde, verbrachte einen Großteil seiner Kindheit in einem Flüchtlingslager in der Schweiz. Er entkam so der Shoah, in der die deutsche chemische Industrie – die fortgeschrittenste der Epoche – eine entscheidende und grausame Rolle spielte. 1960 machte Finzi sein Diplom am Institut Pacinotti in Mestre und arbeitete darauf sofort in einer petrochemischen Abteilung für Cvm/Pvc. Er starb früh im Jahr 2004 an Krebs wie so viele seiner Kollegen.

Die Theorie der Gruppe hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt, dabei können vier grundlegende Punkte ausgemacht werden: 1) die der kapitalistischen Arbeit innewohnende Schädlichkeit 2) ein antagonistisch-transformativer Ansatz zur kapitalistischen Technologie; 3) die Verbindung zwischen Kämpfen am Arbeitsplatz und Kämpfen auf dem Territorium; 4) eine Selbstaufwertung der Klasse verstanden als Bestimmung, „was, wie und wie viel produziert werden soll“ auf der Grundlage kollektiver Bedürfnisse, welche die Ökologie einschließen. Diese Kritik deutete schon damals auf eine emanzipatorische Kampfperspektive für eine antikapitalistische Technologie hin, die mit der nachhaltigen Reproduktion des Lebens auf dem Planeten vereinbar ist.

Gianni Sbrogiò beschreibt den Kontext, in dem der Text „Gegen die Schädlichkeit“ geschrieben wurde, folgendermaßen:

Im September 1970 wurde auf der Konferenz von Potere Operaio in Bologna der Vorschlag für eine Vereinigung mit der Manifesto-Gruppe angenommen. In Marghera geschieht dies im Dezember 1970 mit der Gründung des Politischen Komitees. […] Mitte 1971 endet der Versuch des Bündnisses mit der Manifesto Gruppe, aber unser Kampf, weniger in der Fabrik zu sein, geht weiter, und im April 1974 erreicht das (autonome) Arbeiterkomitee eine Reduzierung der Arbeit um anderthalb Stunden. Ich arbeite am Tag für die schädlichsten Abteilungen von AMMI. [IV]

„Gegen die Schädlichkeit“ ist eine Bilanz des heißen Herbstes und eine erste systematische Reflexion über die Schädlichkeit durch die Gruppe, die sich bis dahin in einer Vielzahl von Flugblättern und kurzen Artikeln ausdrückte. Die Schädlichkeit wurde durch das Prisma einer „Strategie der Verweigerung“ betrachtet: Die Arbeit ist Wertproduktion und daher Reproduktion einer Gesellschaft der Ausbeutung. Der Kampf der Klasse wird also nicht als Bejahung der Arbeit, sondern als ihre Negation gesehen. Um es mit Mario Tronti zu sagen:

Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Arbeit, ist der Kampf des Arbeiters gegen sich selbst als Arbeiter, ist die Verweigerung der Arbeitskraft, sich Arbeit zu beschaffen. [V]

Die Verbindung von Arbeitsverweigerung mit den desaströsen Sicherheitsbedingungen, die im industriellen Boom in den Fabriken herrschten, führte die Gruppe dazu, die Schlüsselidee der inhärenten Schädlichkeit kapitalistischer Arbeit zu entwickeln. Auf der Tagesordnung dieser Zeit stand daher auf dem operaistischen Forderungskatalog „Mehr Geld, weniger Arbeit“, eine quantitative Ausweitung der Klassenbedürfnisse, die darauf abzielte, die Bruchstelle der Unvereinbarkeit mit dem Kapitalismus zu erreichen.

„Gegen die Schädlichkeit“ unterscheidet zwischen einer „traditionell verstandenen“ – greifbare Risikofaktoren wie Explosionen, Stäube, toxische Gase etc. – und einer der kapitalistischen Organisation der Arbeit inhärenten Schädlichkeit, welche Arbeiter und Arbeiterin zu einem entfremdeten Wesen, einem Stück der produktivistischen Maschinerie macht. Sie sind „völlig losgelöst vom Zweck der Arbeit, einem beständigen Verschleiß unterworfen, welche der unmenschliche Einsatz ihrer Arbeitskraft, wie sie die kapitalistische prägt, zufügt und ist nur gebunden an den Profit der herrschenden Klasse.“ Ein Kampf allein gegen die erfahrbare Schädlichkeit wird als ungenügend angesehen, weil sie funktional und daher der kapitalistischen Restrukturierung nützlich ist. Sie lässt das entscheidende Problem, die Priorität der Wertproduktion gegenüber der Reproduktion des Lebens, unberührt. Diese Kritik kann ante litteram als eine Kritik am grünen Kapitalismus gelesen werden. Sie ist aber auch eine Vorwegnahme der heutigen Krise der mentalen Gesundheit: „In der Fabrik neuen Typs wird neben einer bescheidenen Reduktion der Giftstoffe, also professioneller Erkrankungen im klassischen Sinn, eine starke Zunahme psychosomatischer Krankheiten erfolgen.“

Folgen wir der Spur von Raniero Panzieri [VI] mit seiner Kritik an der kapitalistischen Technologie, die den Texten vor dem Text „Gegen die Schädlichkeit“ vorangingen, v.a. das Manifest der „Arbeitsverweigerung“ von 1970 (von Gianni Sbrogiò in seinem Buch wiedergegeben). Dort begreift er die kapitalistische Technologie als Resultat konfliktreicher Prozesse und bestimmter Machtbeziehungen, die keine neutrale Entwicklung bedeuten. Sicherheitstechnisch bessere Maschinen waren notwendig, „Aber um solche Anlagen zu erhalten wäre vielleicht eine neue Generation von Ingenieuren nötig, die keine Maschinen konstruieren, die Gesundheit schädigt und den Profit ins Unermeßliche steigert“ (Fabrikflugblatt v. 28. November 1968). Die Gruppe verfolgte damit einen antagonistisch-transformativen Ansatz gegenüber der kapitalistischen Technologie, der sowohl die instrumentelle Position, wonach kapitalistische Technologie ein neutrales Mittel wäre, das sofort auf antikapitalistische Zwecke umgelenkt werden könnte, als solche abgelehnt wurde.

„Gegen die Schädlichkeit“ zeichnet sich auch dadurch aus, dass das Territorium und insbesondere die Arbeiterviertel als Schauplatz des Klassenkampfes am Punkt der Reproduktion identifiziert werden: „Das Arbeiterviertel selbst […] ist kurz gesagt ein großer Käfig, wo die Proletarier eingesperrt sind, um noch mehr herauspressen. […] Es befindet sich auch in einer deutlichen Umweltgefährdung was die Verschmutzung durch Fabrikabgase betrifft“. Hier wird der Einfluss der damals aufkommenden feministischen Analysen zur unbezahlten Reproduktionsarbeit, wenn auch nicht explizit offenischtlich[VII] 1971 ist genau das Gründungsjahr von Lotta Feminista, die in diesem Punkt mit dem zurückgebliebenen Operaismus bricht.

Meiner Ansicht nach erscheint die im Text „Gegen die Schädlichkeit“ vorgeschlagene Interpretation der Rolle der Gewerkschaften und Reformen im Nachhinein als zu einseitig. Heute sind wir nunmehr dabei, die Überreste des öffentlichen Gesundheitssystems mit einer universellen Berufung auf die Kämpfe der 70er Jahre zu verteidigen. Die Kritik am „Arbeitermodell“, das von Ivar Oddone und seinen Mitarbeitern in der Turiner Arbeiterkammer [VIII] entwickelt wurde, ist auch insofern ungenügend, als dieser Mangel von der Arbeitergruppe des Porto Marghera selbst angesichts der Turiner Erfahrung nicht erkannt wird. Eine in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Erfahrung, die dann in Lateinamerika ein bedeutendes Echo fand und wichtige Werke wie La salud en la fábrica (Era, 1989) von Asa Cristina Laurell und Mariano Noriega beeinflusste. Jedenfalls muss der Unilateralismus im Text „Gegen die Schädlichkeit“ im Lichte der Konkurrenz der Gruppe zu den Gewerkschaften im Kontext der Selbstbehauptung gesehen werden und nicht als Dogma mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Im Laufe der siebziger Jahre (also zu einem späteren Zeitpunkt, was die Umsetzung der Programmatik angeht) kommt die Gruppe zu der Ansicht: um die Schädlichkeit in ihrer Gesamtheit zu bekämpfen, müsste die quantitative Reduzierung der Arbeitszeit von einer profunden qualitativen Transformation der Produktion begleitet werden . D. h., nicht nur „mehr Lohn und weniger Arbeitszeit“ zu fordern, sondern auch zu entscheiden „Was und wie viel produziert“ wird. Die Formulierung von quantitativen und qualitativen Forderungen ist wichtig, weil – wie in dem Text auch zu lesen ist – der Operaismus die dem qualitativen Aspekt gegenüber sehr zurückhaltenden Plattformen kritisierte. Dies, weil sie durch Formen des Co-Managements kooptiert werden könnten, damit die Arbeitnehmervertreter bei der Rationalisierung ihrer eigenen Ausbeutung mitwirken. Auf der anderen Seite musste jedoch erkannt werden, dass auch eine unmögliche vollautomatisierte Fabrik ohne Arbeiter ohne eine qualitative Transformation des Produktionsprozesses eine starke externe Schädlichkeit hätte erzeugen können. So lehnte die Gruppe die Selbstverbesserung nach einem ökologischen Schlüssel ab.

Das Zeitdokument „Gegen die Schädlichkeit“ wird in Kürze übersetzt werden.

Porto Marghera | Die letzten Feuer | Arbeiterautonomie im Veneto | 2006 | dt. Untertitel
74 Aufrufe 02.02.2017 In einem beispiellosen Kampfzyklus versuchte die Arbeiterklasse in Italien zwischen Mitte der 60er und Mitte der 70er Jahre »den Himmel zu stürmen« – danach begannen die Repression und die großen Niederlagen, nur kurz unterbrochen von der ’77er Jugendbewegung. »Arbeiterkampf« hieß damals: Streik, Sabotage, gemeinsam verbilligt einkaufen, organisiert die Energiepreise senken, Häuser besetzen, Angriff auf die Hierarchien in Fabrik und Gesellschaft. Aber auch die Debatten und Kämpfe rund um Frauenarbeit und Hausarbeit waren in Italien zu der Zeit am weitesten fortgeschritten (z.B. »Lohn für Hausarbeit«-Kampagnen). Die Kämpfe in Turin (Fiat) und Mailand (Pirelli, Alfa Romeo) sind auch heute noch einigermaßen bekannt. Fast vergessen hingegen die Kämpfe im katholisch geprägten Veneto: in Conegliano, Valdagno und eben im Industriegebiet Porto Marghera, wo 2 km vom historischen Zentrum Venedigs entfernt Italiens größter Petrochemiekomplex stand. Im Veneto war eine anders als in Turin (ungelernte Bandarbeiter aus dem Süden) zusammengesetzte Arbeiterklasse am Start: Arbeiterbauern, die anfangs bereit waren, die miesen, paternalistisch geprägten und gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen zu ertragen. Die dann aber innerhalb von wenigen Jahren gleiche Lohnerhöhungen für alle erkämpften. Und sich unabhängig von der Gewerkschaft in »assemblee« organisierten. Die Gruppe Wildact hat einen Ende 2004 fertiggestellten Film gefunden, in dem Arbeiter (Arbeiterinnen gab es in Porto Marghera zu der Zeit praktisch keine) selber über diese Erfahrungen berichten. Bereits das macht den Film schon einzigartig, denn sonst reden immer nur Intellektuelle über die ArbeiterInnen. Aber der Film bringt noch mehr: Die Arbeiter thematisieren darin ihren Kampf gegen die gesundheitsschädliche Arbeit. Die Kämpfe in Porto Marghera sind eins der wenigen Beispiele, wo — zumindest für ein paar Jahre — der Kampf gegen die kapitalistische Arbeit und der Kampf gegen die kapitalistische Umweltzerstörung Hand in Hand gingen. Kurze Chronologie: http://www.wildcat-www.de/wildcat/78/…

Fußnoten

[I] Im Verlauf ihres Bestehens gab sich die Gruppe, der Zeit und ihren Zielen entsprechend, unterschiedliche Namen (Potere operaio, Comitato operaio, Comitato politico, Assemblea autonoma, Lavoro zero, Controlavoro, Collettivo di lotta contro le produzioni nocive, ecc.) Vereinfachend nennen wir sie hier“operaistische Gruppe im Porto Marghera”.

[II] Lorenzo Feltrin e Devi Sacchetto, 2021, “The work-technology nexus and working-class environmentalism: Workerism versus capitalist noxiousness in Italy’s Long 1968”, Theory and Society, 50(5): 815-835.

[III] Gilda Zazzara, 2009, Il Petrolchimico, Padova: Il Poligrafo.

[IV] Persönlicher Bericht

[V]. Mario Tronti, 2006 [1966], Operai e capitale, Roma: DeriveApprodi, p. 262.

[VI]. Raniero Panzieri, 1961, “Sull’uso capitalistico delle macchine nel neocapitalismo”, Quaderni rossi, 1, 53–72.

[VII]. Mariarosa Dalla Costa, 1972, Potere femminile e sovversione sociale, Padova: Marsilio.

[VIII]. Elena Davigo, 2017, Il movimento italiano per la tutela della salute negli ambienti di lavoro (1961-1978), Tesi di dottorato, Università degli Studi di Firenze.

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