Der ideologische Schmelztiegel sorgt für ein langes Leben der KP China

China. Interview mit Jean-Pierre Cabestan,

Prof. Jean-Pierre Cabestan ist Professor und Leiter des Department of Government and International Studies an der Hong Kong Baptist University. Außerdem ist er Associate Researcher am Asia Center at Science Po, Paris. Von 2003 bis 2007 war er Senior Researcher am französischen Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (Center national de la recherche scientifique), das dem Institut für Rechtsvergleichung der Universität Paris 1 angegliedert ist. Von 1998 bis 2003 war er Direktor der Taipei Geschäftsstelle des CEFC. Von 1990 bis 1991 war er Dozent am Fachbereich Politik der Fakultät für Orientalistik und Afrikawissenschaften. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen China-Taiwan: Ist Krieg denkbar? Taiwans äußere Sicherheit angesichts der Bedrohung durch das Volkschina, Paris, Economica, 2003; (mit Benoît Vermander) China und seine Grenzen. La Konfrontation Chine-Taiwan, Paris, Presse des Science Po, 2005; übersetzt und in Chinesisch als Sonderausgabe der Zeitschrift Renlai (Taipei), Januar 2007 und China and Russia: between convergence and mistrust, Paris, Unicomm, 2008 ( Mitverfasser). Er hat auch zahlreiche Artikel und Beiträge in englischer Sprache über Chinas politisches System und Reformen, chinesisches Recht, die Beziehungen über die Taiwanstraße und Taiwans Politik veröffentlicht. Er promovierte an der Universität Paris 1 (Panthéon-Sorbonne).

Das Interview führte Lorenzo Lamperti, Quelle: Il Manifesto, kommunistische Tageszeitung

Das sechste Plenum der Kommunistischen Partei Chinas nähert sich. Es wird kein Plenum wie die anderen werden. Dies aus wenigstens drei Gründen: Die Wende von Xi Jinping zu allgemeinem Wohlstand, das Verhältnis zwischen Staat und Privatem, die erwartete Revision der Parteigeschichte seit ihrer Gründung, die dieses Jahr ihr Hundertjähriges erreicht hatte. In seinen Büchern analysiert der Sinologe Jean-Pierre Cabestan öfters die Strukturen der Kommunistischen Partei Chinas, wie ihre Ideologie und er legte den Schwerpunkt besonders auf das Thema Nationalismus.

Professor Cabestan, wie unterschiedlich ist die chinesisch kommunistische Partei, die sich im November ihrem Plenum nähert in Hinsicht auf ihre Ursprünge?

Der grundlegende Unterschied ist, dass sie 1921 eine politische Kraft unter weiteren Parteien bildete, jedoch 1949 eine Staatspartei wurde. Sie ist keine Partei nach westlichem Vorbild, sie ist mehr als das. Sie hat die Kontrolle über den Staat übernommen (man könnte auch sagen, sie hat diesen in Geiselhaft genommen) und ist sein Rückgrat geworden. Die Partei hat sich im Laufe der Jahre konstant weiter entwickelt. Heute haben ihre Mitglieder zumeist eine akademische Ausbildung und 30 Millionen sind Führungskräfte. Sie ist aber weiterhin nach leninistischen Prinzipien organisiert, d.h. von oben nach unten. Nach außen ist sie demokratisch, aber in ihrem Innern ist sie es nicht. Die Mitglieder befolgen die Anweisungen, die von oben kommen und haben haben kaum Möglichkeiten sie zu diskutieren, geschweige denn sie anzuzweifeln. Ein weiteres Schlüsselprinzip ist die Intransparenz. Man weiß nicht wie die Partei arbeitet und wie Entscheidungen getroffen werden. Die Partei ist die größte Geheimgesellschaft der Erde. Mehr als 60 Millionen Mitglieder haben keinen Zugang zu den sensibelsten Informationen. Sie sind nur dafür da, den Diskurs der KPCh zu propagieren und, wenn nötig, die Gesellschaft zu mobilisieren. In ideologischer Hinsicht will die heutige Partei noch als marxistisch-leninistisch wahrgenommen werden. Mit Xi Jinping jedoch werden auch die chinesisch traditionellen Werte gefördert. In den offiziellen Dokumenten werden Marx, Engels, Lenin und manchmal auch Stalin erwähnt, aber nicht Konfuzius. Der Konfuzianismus dient vor allem zur Außendarstellung. Die heutige Ideologie der Partei ist ein großer Melting-pot mit verschiedenen Zutaten auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus. 1

Sie erwähnen die traditionellen chinesischen Werte und es ist uns bekannt, dass Xi besonders auf die Bedeutung von Geschichte und Archäologie Wert legt. Welche Rolle spielen diese Begriffe in der Rhetorik der KPCh und auf welche Weise leisten sie einen Beitrag zur Stärkung ihrer Position im Innern der chinesischen Gesellschaft?

Nach Tian’anmen hat die KPCh dem Nationalismus, oder dem, was als Patriotismus bezeichnet wird, mehr Bedeutung gegeben. Heute ist dies ein Schlüsselelement zur Legitimierung der Rolle der KPCh. Die Förderung des Nationalismus dient zur Einigung der Gesellschaft hinter ihrer Führung. Nach und nach hat die Partei sich wieder auf die antike chinesische Gesellschaft und Geschichte bezogen. Um ihre Rolle zu stärken und die Verhandlungsmacht der Partner zu schwächen, erinnert sie urbi et orbi bis zum Überdruss an das Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Opiumkrieg und dem Jahrhundert der Demütigung. Weit mehr als in der Vergangenheit hat die KPCh die Zangsvorstellung, Chinas Macht und Zentralität zu erneuern. Und die Partei will, dass jeder glaubt, sie sei die einzige Kraft, die in der Lage ist, China wieder groß zu machen.

In öffentlichen Publikationen wie auch in zwei Kommentaren, die in der Tageszeitung Renmin Ribao [人民网_网上的人民日报] im letzten Monat zum historisch sozialistischen Beitrag Jiang Zemins und Hu Jintao erschienen, werden diese kaum noch erwähnt. Bedeutet dies, dass die „dritte Revolution“ von Xi (nach denen Mao Zedongs und Deng Xiaopings) realisiert wurde?

Die KPCh hat vom ersten Tag an begonnen die Geschichte Chinas neu zu schreiben. Es gab große Brüche in der Darstellung während der Kulturrevolution Maos und der Reformära von Deng. Jang und Hu haben sich darauf immer bezogen. Xi jedoch will diese Brüche ausradieren und die Geschichte der Volksrepublik als einheitlichen Block beschreiben. Es geht ihm darum zu zeigen, dass die Partei immer Recht hatte. Hier liegt das Motiv, dass Jang und Hu und manchmal sogar Deng als nebensächlich eingeordnet werden. Deng wird heute nicht mehr als ein Held dargestellt. Er ist zwar der Mann der das Land durch Reformen öffnete, hat aber auch damit Reformen riskiert, die zum Tien’anmen führten, einschließlich der Trennung von Partei und Regierung. Das China von Xi ist so wie das China von Mao paranoid und militant geworden. In seiner Geschichtsversion hatte Mao immer recht gehabt. Sie ist eine vereinfachende Version, die, um es mit den Worten von Xi zu sagen, das Bild von Partei und Land „liebenswerter“ erscheinen lässt.2

Der Westen beschreibt China meistens als „Diktatur“. Wie wird aber das politisches System der KPCh im Innern wahrgenommen?

Der KPCh gefällt es zu betonen, dass sie sich nicht mit den westlichen Werten identifiziert und sie unterstreicht die besonderen chinesischen Charakteristiken. Sie besteht aber auch auf den Standpunkt, dass China demokratisch sei, den ein großer Teil der Bevölkerung teilt. Seit 1949 propagiert die KPCh einen neuen Typus der „neuen Demokratie“ mit acht kleineren Parteien, den ihre Existenz nicht streitig gemacht wird, die aber nicht mit der Macht konkurrieren sondern die Führungsrolle der KPCh akzeptieren. Wer demokratische Ideen westlicher Provenienz verfolgt, wird unterdrückt. Beispiele dafür sind die Kampagne der hundert Blumen von 1957 und 1989.

Ist der Raum für politische Reformen somit definitiv verschlossen?

Jegliche schrittweise Öffnung würde einen Prozess in Gang setzen, von dem die Partei fürchtet, ihn nicht mehr kontrollieren zu können. Es gab einen Versuch Ende der achtziger Jahre, der ins Leere lief. Sicherlich gibt es auch heute noch Chinesen, auch innerhalb der Partei, die diese Idee unterstützen: Das ist auch einer der Gründe, warum Xi sich derart unerbittlich gegen den Konstitutionalismus und die Gewaltenteilung verhält. In der Mentalität der KPCh ist ein Übergang zu irgendeiner anderen Regierungsform undenkbar. Jedoch will die Partei zeigen, dass sie nach den Interessen der Bürger regiert und dem „Volke dient“, wie Mao forderte. Deshalb organisieren die Funktionäre regelmäßig Umfragen und wenn es Beschwerden gibt, versuchen sie, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ihre letzte Option bleibt dann die Repression zur Rettung stabiler Verhältnisse. Die KPCh bleibt aber weiterhin ein effektiv militärisch organisiertes top-down System, das gleichzeitig den Eindruck zu erwecken versucht, das Volk zu konsultieren und zu repräsentieren.

Wie ist der Zugang zur Partei für die chinesischen Bürger beschaffen?

Das Aufnahmeverfahren ist nicht einfach. In Frankreich oder Italien setzt man sich an Tisch einer Bar, unterzeichnet ein Stück Papier und ist Mitglied einer Partei. In China braucht es wesentlich längere Zeit für eine Mitgliedschaft. Man muss jemanden kennen und dann die Probezeit von einem Jahr überstehen. Dann gilt es die Regeln der Partei zu lernen und zu beweisen, dass man die Parteiarbeit und Geheimhaltung befolgt und sich gut beträgt. Welche Motivation führt dazu, der Partei beizutreten? Eine äußerst pragmatische, fast schon zynische. Man versucht in die Partei einzutreten, weil man weiß, dass sie bei der Karriere behilflich sein kann. Für den persönlichen Erfolg in China bedarf es, besonders im öffentlichen Sektor, der Aufnahme in die kommunistische Partei. Durchschnittlich gelingt es einem Bewerber von Zehn in die Partei einzutreten. Mao wollte in der Vergangenheit Arbeiter und Bauern rekrutieren, aber seit den Reformen sind es immer mehr besser ausgebildete und kompetente Personen, die aufgenommen werden. Heute hat etwa die Hälfte der Mitglieder eine akademische Ausbildung. Die KPCh wurde eine Elitepartei für deren Inneres sich wirklich nur die interessieren, die in ihr organisiert sind. Der größte Teil der Chinesen ist entpolitisiert und deren hauptsächliches Interesse besteht darin, wie im Grunde im übrigen Teil der Welt auch, Geld zu verdienen und ein besseres Leben zu haben.

Manchmal ist das Eintreten in die Parte nicht genug. Was sagt uns das Beispiel Jack Ma und all das, was darauf in der Haltung der KPCh in Fragen Privatökonomie und große Manager folgte?

Die chinesische Ökonomie ist von gemischtem Typus. Seit Deng und in der Folge gibt es in China private Unternehmen und ist darauf angewiesen. Viele dieser Privatkolosse sind nicht gefährlich, gerade weil sie Hand in Hand mit der Regierung, besonders auf lokaler Ebene, arbeiten müssen, um Erfolg zu haben. Je größer und internationaler diese Unternehmen werden, verbessert sich ihre Verhandlungsposition gegenüber der Partei. Vermutlich dachte Ma, die Möglichkeit zu haben, das seine zur Finanzpolitik sagen zu können und die Partei musste ihm und allen anderen zeigen, dass es so nicht geht. Die Partei braucht aber diese großen Unternehmen, die als fundamentale Bestandteile des ökonomischen Erfolgs Chinas gelten. Das heißt für die KPCh diesen Kräften entgegenzuwirken, die sich nicht vollständig kontrollieren kann. Heutzutage achten die großen Unternehmer darauf, sich nicht in politische Fragen einzumischen und stellen derzeit keine Gefahr dar. Sie bilden jedoch eine potenzielle Kraft, die als solche zu erkennen ist und mit der man rechnen muss, weil sie Modelle anbietet, welche die Öffentlichkeit, die Gesellschaft und die Entscheidungen der Regierung beeinflusst. Ich denke, dass die Partei ein Gleichgewicht mit diesen Zentren der Finanzmacht finden muss, bevor sie ihre Programmatik, wie das Land funktionieren sollte, erarbeitet und darstellt. Barrington Moore schrieb „Ohne Bourgeoisie keine Demokratie.“ Die Bourgeoisie ist eine notwendige, jedoch nicht ausreichende Bedingung für die Demokratie. Denn wenn die Menschen genügend zu essen haben und ein angenehmeres Leben führen, haben sie auch Zeit, sich für Politik zu interessieren und dafür, was die Regierung mit den Steuergeldern macht.

Q Inwieweit ist die Partei, die dem Volkskongress 2022 entgegengeht Ausdruck der Leadership von Xi und in welchem Maße ist hingegen Xi Ausdruck der Partei?

Sie haben recht zu bezweifeln, dass China von einem Mann allein auf Kommando regiert wird. Es war nie so gewesen und wird auch nie so sein: Die KPCh stellt eine gigantische Organisation dar und viele Entscheidungen werden weit ab von Peking getroffen. Gleichzeitig ist aber auch wahr, dass Xi die Macht in seinen Händen zentralisierte wie es in Zeiten nach Mao nie geschehen ist. Bis 2017 herrschte innerhalb der Partei ein breiter Konsens zu ihrer Linie. Danach haben sich die Zweifel vermehrt und wurden schließlich sehr vorsichtig geäußert. Was aber die einfachen Leute angeht, bilden sie ein breites Segment der Zufriedenheit mit Xi innerhalb der chinesischen Gesellschaft. Und ihre Eliten sind nicht stark genug eine wirkliche Opposition zu organisieren, auch weil Xi alles kontrolliert. Es ist ihm gelungen, alle seine Kritiker und die kritischen Potentiale auszuschalten. Darüber hinaus scheint er keine Eile zu haben, einen Nachfolger zu finden und es ist absehbar, dass Xi noch einige Zeit die Geschicke Chinas und der KPCh lenken wird.

Die westliche Welt beabsichtigte nicht nur China in sein System zu integrieren, es aber auch neu zu gestalten. Wir wissen, dass dies nicht stattfand. Welche Art von Gleichgewicht zwischen den Werten der KPCh und den westlichen könnte man sich zukünftig vorstellen?

Augenblicklich sind alle Zutaten für einen neuen kalten Krieg vorhanden: geopolitische Spannungen wegen Taiwan sowie im chinesischen Meer. Technologischer wie ökonomischer Wettbewerb, Handelskrieg und ideologische Rivalitäten. Ich glaube aber nicht, dass hypothetisch nicht einmal neuer kalter Krieg zu Veränderungen in China führen würde. Sollte sich China verändern, dann nur durch Druck der chinesischen Gesellschaft, besonders der Eliten, doch nicht durch äußere Faktoren.

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1. [Anmerkung Übersetzer]Im China der Kulturrevolution wurde im „Kampf zweier Linien“ eine Kampagne gegen die Tradition des Konfuzianismus für eine Tradition, die sich auf die Dialektik Lao Tse’s beruft, geführt. Konfuzius war der Inbegriff des Erstarrten, der Bürokratie und Verwaltung im Sinne derer „die den kapitalistischen Weg gehen“, Lao Tse war historisches Vorbild eines Denkens, das die Dinge und ihre Umgebung in Bewegung und im Rahmen des Kampfes der Gegensätze sieht. Leider, das scheint mir die Schwäche des Interviews, wird auf die ideologischen Brüche innerhalb der Partei völlig unzureichend eingegangen, deren Lösung während und nach der kulturrevolutionären Entwicklung eine erhebliche Rolle spielten (so die Demokratiebewegung, Dialektik und Schematik, Markt und Planung (Adam Smith in Bejing). Das Interview ist auch Beleg, dass es einer kommunistischen Tageszeitung nicht mehr gelingt, die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen zu begreifen. So wird aus Faktizität, eine Kaffeesatzleserei der Expertise. Wie ist z.B. der hohe Anteil an Akademiker-innen in der KPCh zu erklären? Erfolg? Misserfolg? „schlechtes Gewissen“ aus der Kulturrevolution herrührend? Entwicklung und Qualifizierung der Produktivkräfte?

2.[Anmerkung zur Übersetzung]siehe dazu auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Xi_Jinping. Die Beseitigung der Widersprüche in der Geschichtsbetrachtung, die i.Ü. über das Beschauen des Mandarinentums nicht hinauskommt, führt zur Frage, wie Xi Jinping, dessen Familie unter die Räder der Kulturrevolution kam, sich derart auf Mao Zedong beziehen muss. Die KPCh kritisierte die KPDSU wegen des neuen Zarentums, das die kapitalistische Übernahme der Sowjetunion anstrebt.Die Kampagne richtete sich nach innen im „Kampf zweier Linien“ gegen Funktionäre, „die den bürgerlichen Weg gehen“. Die Frage ist soziologisch wie psychologisch von Interesse, insoweit sich in der Ära Maos, sich die Klassenverhältnisse grundlegend verändert haben, und auch die Karriere eines priviligierten Zöglings hoher Funktionäre zum omnipotenten Machthaber der Partei über die Erfahrungen und Eindrücke während der Zeit der roten Garden sicherlich entscheidend geprägt wurde.

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