Via da Valona!

Im Juni des Jahres 1920 widersetzte sich ein Bersaglieri-Bataillon der Kolonisierung Albaniens. Der koloniale Feldzug schlug dank der Unterstützung der Bevölkerung fehl, denn er führte zu einem Aufstand der in die Geschichte beider Länder als die roten Tage einging und den Höhepunkt einer roten zweijährigen Phase kennzeichnete.

Quelle:

La Città Futura
Autor: Renato Caputo, Übersetzung: G.Melle
Grafik: Geographie einer Revolte

„Als ich aufstand und mich anzog – wird Tenente Paneri erzählen – sah ich mich einigen bewaffneten Bersaglieri gegenüber, die schrien: wir gehen nicht mit, wir wollen bleiben, wo wir sind.“

Im Juni 1920 weigerte sich ein Bersaglieri Bataillon, das in der Kaserne Villarey in Ancona stationiert war, in den Krieg nach Albanien zu ziehen. Ihre Waffenbrüder und breite Teile der Bevölkerung solidarisierten sich. Somit zwangen sie die neugebildete Regierung Giolitti den Abmarschbefehl zu widerrufen, auf die kolonialen Gelüste zu verzichten und die skipetarische Unabhängigkeit zu respektieren.

Es war das erste Mal, dass Soldaten der italienischen Armee erfolgreich rebellierten und nach der Oktoberrevolution das vielleicht erfolgreichste Resultat erzielten. Auf dem Höhepunkt des Biennio Rosso als die revolutionären Erwartungen wie auch die Möglichkeiten lebendig waren, wuchs aus der Solidarität mit den Bersaglieri der Volksaufstand, der darauf zählte, die Revolution auszulösen. Das war die Zeit der „giornate rosse“ [der roten Tage]: In ganz Italien wurde gestreikt, demonstriert und gab es Zusammenstöße.

Via da Valona! ist mit bisher unveröffentlichtem Archivmaterial die erste und vollständige historische Rekonstruktion 100 Jahre nach diesem berühmten Ereignis.

Der Autor des Werkes ist Ruggero Giacomini, PhD in Geschichte politischer Parteien und Bewegungen, Schüler und Mitarbeiter von Enzo Santarelli an der Universität von Urbino, Präsident des Kulturzentrums „La città futura“. Er ist Autor präziser und innovativer Studien zu Gramsci, zur Friedensbewegung und zum Widerstand und hat bereits mit Castelvecchi Gramsci und Der Richter (2017) und Der Stalin-Prozess (2019) Veröffentlichungen vorgelegt.

Das erste Kapitel „Partir bisogna“ [Wir müssen gehen!] beschreibt, dass das Battaillon der Bersaglieri den italienischen Kolonialtruppen in Albanien zu Hilfe kommen sollte. Diese waren in Valona durch albanische Rebellen in die Defensive gezwungen worden. Zudem „ging in Ancona das Gerücht um, dass nach dem Essenfassen in der Kaserne eine Demonstration gegen den Stellungsbefehl stattfand.“ Weiterhin „war die Aussicht gegen ein Volk in den Krieg zu ziehen, das Herr in seinem Haus sein wollte, nicht gerade geeignet, den Konsens in der Truppe aufrechtzuerhalten.“ Die Bersaglieri wandten sich an die politischen Parteien der Linken, um für ihren Kampf die Unterstützung der Arbeiterbewegung zu erhalten, die sie auch bekamen.

Das zweite Kapitel, „Albania contesa“, [umkämpftes Albanien], erinnert an die Erklärung der Unabhängigkeit im Jahr 1912, die der Krise des ottomanischen Reichs geschuldet ist.

Nach der Oktoberrevolution wurden die Geheimverträge bekannt, die Italien den Eintritt in den ersten imperialistischen Weltkrieg ermöglichten. Sie sahen unter anderem vor, einen Teil Albaniens zum Protektorat zu erklären. Als der Krieg beendet war, strebte Italien die Aufteilung Albaniens zusammen mit Griechenland an. Daraufhin erhob sich die Bevölkerung. In Italien mobilisierte die sozialistische Partei und die Gewerkschaft Cgl gegen die kolonialen Bestrebungen und in Trieste lehnten sich die Militärs gegen ihren Einsatz in Albanien auf.

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Im dritten Kapitel, „Das 11. Bersaglieri-Regiment„, wird berichtet wie ein zur Auflösung vorgesehenes Bataillon unerwartet mit der Intervention in Albanien beauftragt wurde.

Das vierte Kapitel, „Abend der Musen“, erzählt, dass die zuständigen Behörden nicht verstanden haben, was sich da zusammenbraute. In den folgenden Kapiteln werden die verschiedenen Entwicklungen der Meuterei ausführlich und mit einer gut dokumentierten und ausgesprochen überzeugenden Erzählung beschrieben. Lassen Sie uns ab Kapitel 18 sehen, wie in der explosiven Situation der roten Zweijahresperiode die Meuterei der Funke war, der einen spontanen Aufstand auslöste.

Die Meuterei der Soldaten endete, als den Soldaten versichert wurde, dass sie das Kräftemessen gewonnen hatten und daher nicht eingesetzt würden. Die Soldaten verlangten auch, dass die Bürger, die ihnen geholfen hatten, unversehrt bleiben sollten. Jedoch „fand die Fortsetzung des Kampfes aufgrund der Unbestimmtheit der Aussichten und der Unsicherheit der allgemeinen Situation nicht die Zustimmung der Mehrheit in der Kaserne“. Obwohl „der militärische Aufstand in Villarey etwas mehr als zwölf Stunden gedauert hatte, reichte dies dennoch, das ganze Land zu erschüttern und die Kriegspläne der Regierung zu vereiteln“.

Kurz darauf erfolgte in der ganzen Provinz ein Generalstreik für die Freilassung aller, denen keine bestimmte Straftat vorgeworfen werden konnte. „Der Generalstreik verlief «geschlossen und ohne Streikbruch»: Er war eine außerordentliche Prüfung für eine Arbeiterklasse, die sich trotz einer Niederlage beim Versuch der revolutionären Erhebung einheitlich und bestimmt verhielt.“ Auf diese Weise verfolgte der „einheitliche Widerstand das Ziel des Abbruchs und am 5. Juli, nach der Beendigung der Festnahmen und Masseninhaftierungen, wurde der Generalstreik beendet und die Arbeit wieder aufgenommen.“ Insoweit übertrafen die „giornate rosse [die roten Tage] an Dauerhaftigkeit die settimana rossa [siehe auch: die rote Woche]. Und um einiges mehr als die Bewegung von 1914 «wurden sie verallgemeinert und ausgedehnt». Sie war geographisch wie sozial weniger isoliert und bot deshalb sicherlich neue Möglichkeiten. Auf dem Land im Mezzogiorno standen die arbeitslosen Taglöhner und in ganz Mittelitalien die Halbpächter im Kampf. Letztere verlangten die Verbesserung ihrer Pachtverträge, doch vor allem explodierten hier und da erneut die gerade eben beruhigten Proteste gegen die Teuerungen des Lebens.“

Darüber hinaus „entwickelte sich zur Revolte der Bersaglieri und der populären Bewegung in Ancona eine breite Kampf- und Solidaritätsbewegung“. „Mit Streiks und Massendemonstrationen wurden in mehreren Teilen des Landes die Weigerung der Soldaten, nach Albanien zu ziehen und die Rückführung der dort stationierten Militärs zu erreichen, unterstützt. In den fortgeschrittensten Augenblicken gelang es von den abstrakten Deklamationen wegzukommen und zur Thematisierung der weitverbreiteten Erwartungen einer sozialistisch konnotierten Republik überzugehen.“

Besonders hervorzuheben ist der Verlauf der Proteste in der Arbeiterstadt Terni (Umbrien), der deshalb auf der Strecke blieb, weil weder sozialistische Partei noch Cgl die Absicht hatten, die Proteste auszuweiten. So wurde dort die mächtige Bewegung durch ein Blutbad seitens der bürgerlichen Ordnungskräfte zerschlagen und die Ausrufung des Generalstreiks auf ganz Umbrien ausgerufen, und somit eine Ausweitung auf nationale Ebene verhindert.

Jedoch bewiesen die Arbeiter der Marche und der Romagna in kürzester Zeit ihre Solidarität mit dem Volksaufstand in Ancona, indem sie mit allen nötigen Mitteln das Vordringen bewaffneter Streitkräfte in die Stadt verhinderten. Dennoch „waren zwei Gründe ausschlaggebend, die einer Entwicklung zum Aufstand in der Art der roten Woche im Wege stand: „Die Erfahrung der Massen mit dem Krieg, der sie die Bedeutung eines organisierten Kommandos und der Disziplin gelehrt hatte und das Ansehen und die gewachsene Kraft der sozialistischen Partei von der man die entscheidend nationale Ausrichtung der Kämpfe erwartete.“ Angesichts der Mobilisierung, die sich auf das ganze Land erstreckte, war die in der Partei vorherrschende Strömung, die Mobilisierung gegen die Aggression in Albanien maximal zu entwickeln und gleichzeitig die Disziplin der Massen aufrechtzuerhalten, in Erwartung der entsprechenden Anweisungen zur bedeutenderen Auseinandersetzung mit der Macht.“

„Die römische Situation spiegelte in konzentrierter Weise die Spannungen und Widersprüche wider, die im Land bestehen, zwischen Solidarität und Kampf von unten und den Unsicherheiten und dem vorsichtigen Lavieren von sozialistischer Partei und Gewerkschaften“. Schließlich kehrte der ebenfalls in Rom bestätigte Generalstreik zurück, als die Regierung gezwungen war, die Expedition nach Albanien aufzugeben. In Wirklichkeit forderte die Regierung Giolitti, dass Italien ein Mandat zur Förderung der vollständigen Unabhängigkeit Albaniens übernehmen und daher die militärische Garnison in Valona aufrechterhalten müsse. Weder die Sozialisten im Parlament noch die Volksmassen hörten jedoch auf, für einen vollständigen Rückzug zu kämpfen, so dass sich am Ende die Bewegung „Raus aus Valona!“ [Via da Valona!) durchsetzte und Giolitti die Armee vollständig zurückziehen musste.

Es war jedoch der herrschenden ideologischen Hegemonie geschuldet, dass die militaristischen Offiziere für die Meuterei verantwortlich gemacht und folglich der Volksaufstand ein von den Sozialisten akzeptiertes Missverständnis gewesen wäre, das auch zur Rechtfertigung ihrer eigenen Unentschlossenheit diente. Der Konfrontation folgte der Prozess, in denen die Linke sich um die Verteidigung der Angeklagten zusammenschloss und argumentierte, dass die begangenen subversiven Aktionen im Vergleich mit dem Unternehmen der Rechten in Fiume nichts waren. Die wenigen im Prozess Angeklagten könnten, da es sich um eine Massenbewegung handelt nicht verurteilt werden. Der Prozess endete mit insgesamt milden Urteilen für die kleine Anzahl Angeklagter.

Im Übrigen „zeigte der Aufstand in Ancona den tiefen Gegensatz zwischen dem revolutionären Empfinden des Volkes, das sich gegen den Krieg wandte und den Entwürfen eines Dichters [D’Annunzio], der schon eifrig an einem Projekt der imperialistischen Aggression arbeitete.“

In dieser vorrevolutionären Situation spart die sozialistische parteieigene Zeitschrift „L’Ordine Nuovo“ nicht an Kritik gegenüber der Führung der sozialistischen Partei. Auch war die spontane Orientierung der Soldaten derart, dass sie die Aufgabe der Armee in ihrer antipopulären repressiven Funktion neutralisierte. Die Bedingungen des Bewusstseins und der Organisation, dass die Truppe schon in wenigen Bereichen eine aktive revolutionäre Rolle einnehmen könne, waren jedoch nicht gegeben. Tatsache ist auch, dass die Führung der Psi [sozialistische Partei Italien] die Notwendigkeit der politischen Arbeit innerhalb des Militärs nicht sah. Der Theoretiker Antonio Gramsci „…merkte an, dass die Psi-Führung bereits ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren begann und das Risiko bestand, dass die Partei sich «rein parlamentarisch» orientierte und die Kontrolle über die Massen verlor, die, da sie keine Führung im Kampf hatten (…), eine historische Niederlage erlitten.“

„Die Erfahrung der Massen machten die roten Tage zum Höhepunkt der zweijährigen roten Phase und führten zur Wiederherstellung des sozialen politischen Blocks aus den Tagen der roten Woche.“ Andererseits „zeigt sich die zögerliche Haltung der Psi gegenüber der Revolution auch in Bezug auf das Entstehen der faschistischen Reaktion.“ Es bleibt die Feststellung, dass „der Kampf der Soldaten und der Bevölkerung Anconas im Sommer 1920 der Sache der albanischen Patrioten diente, die berechtigt den Kampf um die Unabhängigkeit ihres Landes führten.“



Anmerkungen

Titelbild: Ruggero Giacomini, Via da Valona! La rivolta dei bersaglieri e le “giornate rosse, Castelvecchi, Roma 2020, pp. 285, 24 Euro. Die Zitate im Artikel sind dem Buch entnommen.

Biennio RossoDie roten zwei Jahre: Wird für gewöhnlich die zweijährige revolutionäre Phase 1919/1920 in der Geschichte Italiens genannt.

Biennio rosso settembre 1920 Milano operai armati occupano le fabbriche.jpg
September 1920: Arbeiter besetzen die Fabriken von Alfa Romeo in Mailand.

In dieser Phase gab es Bauernaufstände, Unruhen auf Grund der staatlichen Rationierungen, Arbeiterdemonstrationen, Land- und Fabrikbesetzungen, die teilweise in Selbstverwaltungsversuchen mündeten. Sie ereigneten sich insbesondere in Mittel- und Norditalien. Die Unruhen erstreckten sich auch auf die ländlichen Gebiete und wurden oft von Streiks, Streikposten und Zusammenstößen mit der Zentralgewalt begleitet.

Weitere Informationen: Biennio rosso in Italia, Rivolta dei Bersaglieri, Biennio rosso in Europa.

Zum theoretisch – analytischen Hintergrund siehe: Antonio Gramsci Sotto la Mole u. Philosophie der Praxis (Gefängnishefte 10/11)

Als „Giornate rosse“ werden die Tage des Höhepunktes dieser zweijährigen revolutionären Phase bezeichnet, die durch die Revolte der Bersaglieri am 25./26. Juni 1920 in Ancona ausgelöst wurden.

Der Stalinprozess: In einem weiteren Opus befasst sich der Autor mit dem XX.Parteitag der KPDSU, der Rolle Chruschtschows und den Fragen von Kollektivierung, Verfolgung der Kulaken und Errichtung der Gulags.

Die rote Woche

Bild 1: Gemälde Capri Revolution, 1914, http://www.sinistraineuropa.it.

Bild 2: Settimana Rossa – Gemälde zu den Erhebungen 1914 in Ancona

Als Settimana Rossa [Rote Woche] werden die Aufstände zwischen dem 7. und 14. Juni 1914 bezeichnet. Anlass waren die Massaker in Ancona seitens der Polizei an drei Demonstranten.

Das Unternehmen Fiume (Rijeka)
Gabriele D’Annunzio mit seinen Arditi in Fiume (1919)

Während der Pariser Friedenskonferenz einigten sich im August 1919 die Premierminister Frankreichs und Großbritanniens, Georges Clemenceau und Lloyd George, mit dem italienischen Außenminister Tommaso Tittoni darauf, Fiume als Freie Stadt unter Aufsicht des Völkerbundes zu stellen. Sie warteten nur noch auf die Zustimmung des US-Präsidenten Wilson. Am 12. September 1919 besetzten jedoch 2.500 italienische Freischärler – genannt Arditi – unter der eigenmächtigen Führung des italienischen Nationalisten und Schriftstellers Gabriele D’Annunzio die Stadt, gegen den Willen der italienischen Regierung. D’Annunzio wollte mit dem Status von Fiume (Rijeka) als italienischer Stadt vollendete Tatsachen schaffen und so verhindern, dass die Stadt dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat, dem späteren Jugoslawien) zugesprochen werden könnte.[13] [Wikipedia]

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