Vor 10 Jahren verstarb José Saramago (1922-2010)

Autor: plv* è un attivista e insegna, da precario, italiano e storia nelle scuole superiori di Bologna. Ha collaborato con Giap per diverse cronache da Bologna (qui e qui), da Ventimiglia (qui e qui) e dalla penisola iberica (qui e qui). Ha insegnato letteratura portoghese e brasiliana e sulla rivoluzione portoghese ha scritto un articolo per Nuova Rivista Letteraria: «Garofani rossi per sbiancare la storia» (pdf qui).
Der Autor ist Lehrer für Italienisch und Geschichte in prekärem Arbeitsverhältnis, der u. a. auch mit dem Newsletter von Wu Ming zusammenarbeitet.
Übersetzung G. Melle
José Saramago war ein Spaccamaroni. siehe
Man muss das so schreiben: mit einem schamlosen Wort, das nicht im Wörterbuch steht. Und Letzteres sollte man sofort und ohne zu zögern, beiseite legen, damit uns nicht die Ehrfurcht einschüchtert, wenn wir von jemandem sprechen, der von Bedeutung ist.
L’epidemia e la rivoluzione. A dieci anni dalla scomparsa di José Saramago (1922-2010)
José Saramago era uno spaccamaroni.
E va scritto così, senza esitazioni, con tanto di turpiloquio e vocabolo assente da ogni dizionario. Occorre mettere in disparte, da subito e senza timidezza, quel senso reverenziale che rischia di intimidirci ogni volta che parliamo di qualcuno di importante.
Es stimmt, José Saramago war ein großer Schriftsteller. Er schenkte der Welt der Literatur unvergessliche Werke. Er würde sagen, dass sie nicht die Welt retteten, doch sie könnten das Leben einer Person verändern. Warum das, was er schrieb, diese Kraft entfaltete, liegt daran, dass José Saramago eben auch noch ganz anders war.
José Saramago war Kommunist. Er war ein Kommunist mit der Fähigkeit, die neuen Kämpfe zu begreifen. Er stellte sich den Debatten, ohne mit Kritik zu sparen. So kritisierte er offen 2003 das kubanische Regime und hielt dennoch fest daran, die kubanische Revolution und ihr Erbe zu unterstützen. Auch gegenüber der Kommunistischen Partei Portugal, in der er seit 1969 Mitglied war, war sein Verhältnis öfters turbulent, v. a. in der Zeit der Revolution von ’74-’75. Erst als er Mexiko besuchte, präzisierte er sein politisches Selbstverständnis: „Ich bin Kommunist, in Mexiko aber bin ich Zapatista“

José Saramago war ein Aktivist. Er war das sowohl in Sachen Romane schreiben, wie auch in seinen öffentlichen Äußerungen. Saramago agierte nicht, um Zustände zu beschreiben, sondern um ihnen zuzusetzen. Und wenn es daran Zweifel gibt, wäre seine Einlassung vom 15. März 2003 gegen die kriegshetzerische Politik der Bush und Blair heranzuziehen; oder auch seine Positionierung gegen den Eintritt Portugals und Spaniens in die Europäische Gemeinschaft [1]; oder auch seine Äußerungen zur Politik Israels. In seinen Romanen sind ebenfalls unschwer seine politischen Positionen zu erkennen, die sich gegen die herrschende Ordnung der Verhältnisse richtet, die es zu verändern gilt. Da laut Saramago kein Gewaltakt ewig ist, kann er eingehend historisch aufgearbeitet werden: Jeder Gewaltakt hat einen Anfang und also auch ein Ende, er kann bekämpft und somit beseitigt werden.
Saramago war ein Mensch, den das Leben weder vergrämt, noch pessimistisch oder nihilistisch eingefärbt hatte.
Josè Saramago war Revolutionär.
Gefährliche Spiele
Am 25. April 1974 [dem Ende der Nelkenrevolution, Red.] hatte José Saramago einige Lyrikbände, einen veröffentlichten und einen in der Schublade versenkten Roman, verschiedene Artikel und zwei Chroniken als Aktivposten vorzuweisen. Der unveröffentlichte Roman wurde posthum gedruckt. In kultureller Hinsicht ist das schon eine Referenz, die jedoch noch weit weg ist, als anerkannter Schriftsteller zu gelten.
Es gibt nicht viele, die meiner Ansicht sind, dass er mit den Artikeln, die er zwischen ’72 und ’73 im Diário de Lisboa schrieb, und die als Sammelband As opinoes que o DL teve [Über die Meinungen des Diário de Lisboa, Red.] zusammengefasst wurden, seinen Schritt ändert. In der Spaltenüberschrift einer Zeitschrift wird das so interpretiert, dass Saramago die Rolle eines Seiltänzers annimmt, weil er sich anschickt, das seit Jahrzehnte herrschende faschistische Regime zu kritisieren und dabei der engmaschigen Zensur zu entkommen. Es gelingt ihm auf die Weise, dass er die Waffen benützt, die ihm das Regime selbst zur Verfügung stellt.
In den Artikeln analysierte Saramago mit chirurgischer Präzision den Machtapparat eines Regimes, welches Sprache und Stil des 1970 verstorbenen Ex-Leader 1970, geerbt hatte. Das Vorhaben war jedoch kein einfaches: Das portugiesische Regime hatte nichts gemein mit dem bombastischen Stil des italienischen Faschismus. Die Äußerungen des portugiesischen Regimes sind eindeutig in Bezug auf die Unterdrückung kolonialer Aufstände, jedoch honigsüß, was die portugiesische Regierung angeht. Der Philosoph José Gil, der sich mit der Sprache Salazars befasste, spricht daher von einer „Rhetorik der Unsichtbarkeit“. Sie folgt der Erzählung, dass der faschistische Staat „eine anständige Person“ sei, und die Bürger bereit wären, die Anonymität zum Wohle der Nation zu wählen.
Saramago attackierte diese diskursiven Mechanismen mit der Rasierklinge der Ironie und politischen Affronts, gegenüber einem Regime, das bereit ist, willkürliche Verhaftungen seiner Regimegegner vorzunehmen. Das gelingt ihm nicht immer: In der Fondação Saramago di Lisboa sind in einer Vitrine Drucke von Artikeln dieser Zeit, mit Korrekturen und von der Zensur auferlegten Kürzungen ausgestellt. Weiterhin enthält die Sammlung As opiniões que o DL teve vier Artikel, deren Publikationsdatum fehlt. Es sind die Artikel, deren Druck durch die Zensur verboten wurde.
In einem von ihnen setzte sich Saramago mit einer der typischen rhetorischen Figuren auseinander, welche die Mitglieder des Regimes einer „Rhetorik der Unsichtbarkeit“ gebrauchten: es geht um den Euphemismus. Dieser Mechanismus wird in Gang gesetzt, um die Realität extremer autoritärer Verhältnisse rhetorisch zu verschleiern. Zu einer Erklärung des Staatssekretärs für Informationswesen, César Moreira Baptista, in der er von der Notwendigkeit einer „Dekompression der Rechte und individuellen Garantien“ spricht, schreibt Saramago:
«Aber wo findet sich letztlich der Euphemismus? Der Euphemismus wird unterstrichen (nicht von uns) durch den Begriff Dekompression (der Rechte und individuellen Garantien). […] Trotz dieses stilistischen Ausweichens wird ein Geständnis abgelegt: jenes, dass die Rechte und individuellen Garantien der Portugiesen komprimiert sind. Wir wussten das alle und wussten aber auch, dass eine so minutiöse Erklärung der Dekompression, keine solche war.»
(José Saramago: «O eufemismo como política»).
Saramago war ein Meister, doch sein Spiel war riskant. Seine Verhaftung war für den 29. April 1974 vorgesehen.
Das Geburtsjahr von José Saramago
Das Theaterstück La notte erzählt von der Knechtschaft der Direktoren der Zeitungen, vom Würgegriff der Zensur auf die Information, und erzählt vor allem von ihrem Ende. Das Drama spielt in der Nacht, welche die Geschichte Portugals der Nachkriegszeit veränderte.
Im Morgengrauen des 25. April 1974 besetzte das Movimento das Forças Armadas [Bewegung der Streitkräfte, Red.] die Straßen Lissabons, um die Regierung unter Marcelo Caetano abzusetzen. Die Bevölkerung befolgt die Anweisung nicht und strömt zum Largo do Carmo, wo sich Caetano bis zum Abend in Schweigen verkrochen hatte. Schließlich war er gezwungen, ein Flugzeug zu besteigen und nach Brasilien zu fliehen. Die Revolution dauerte aber länger als ein Tag. Sie dauerte mindestens eineinhalb Jahre. Vielleicht dauerte sie auch länger, in Anbetracht, dass 1961, das portugiesische Regime seinen unabwendbaren Untergang mit dem Beginn des Aufstands in Angola antrat.

In den, auf den 25. April, folgenden Tagen, begann Saramago an einem Gedicht zu schreiben, das in allegorischer Form die Geschichte eines, durch ein autoritäres Regime, versklavten Volkes zeichnet. Er begann am 16. März 1974 mit dem Schreiben des Gedichts. Anlass war der gescheiterte Putsch gegen das Regime. Aber am 25. April unterbricht er seine Vorhaben: Die Lage hat sich geändert und ein derartiger Text war nicht mehr notwendig. Saramago beteiligte sich an den Demonstrationen und öffentlichen Diskussionen. Ein Jahr darauf, im April 1975 finden wir ihn wieder in der Leitung des Diário de Noticias, eine der führenden, die Revolution unterstützenden Tageszeitungen. Seine Artikel, die er vom 14. April bis zum 25. November 1975 schrieb, wurden in der Sammlung Os apuntamentos, Cronicas politicas (Notizen, Eine politische Chronik, Red.) veröffentlicht.
Man würde denken, dass Saramago nun seinen Stil ändern würde, jedoch sparte er nicht mit Kritik am revolutionären Prozess, an Leuten, die ihre persönliche Karriere schmiedeten und an seiner Partei: Er ist in jeder Hinsicht ein Aktivist, der an der Entwicklung seines Landes hin zum Sozialismus arbeitet. Er tut das im vollen Bewusstsein der möglichen Gefahren.
«Portugal wird sozialistisch sein, oder es wird sterben, immerhin in Würde. Es ist der einzige Weg der Befreiung und Freiheit. Alles andere bedeutet Kapitalismus, faschistisch oder sozialdemokratisch.
(José Saramago «A mão do imperialismo»)

Das revolutionäre Portugal war ein Land des Aufruhrs und des Widerstreits unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte: Es sind die der Revolution, der Reaktion und der sich anbahnenden neuen Welt der Sozialdemokratie und des gemeinsamen Marktes. hielt es geboten, auf diese Entwicklung zu reagieren, und er schrieb einen Artikel mit dem Titel „Rettet die Revolution!“, in dem er die Bevölkerung zur Vorsicht ermahnte. Er ahnte, was im Anzug war und warnte vor der Gefahr, dass sich Portugal zurückentwickelt und gefährlich abdriftet. Er begann wieder an seinem Gedicht, das er am 25. April in die Schublade legte, zu arbeiten. Das ist eines der Beispiele, welche die Schriften von Saramago zurecht in ihrer kämpferischen Substanz charakterisieren. Aufgrund der Veränderung der Situation erinnerte Saramago an die Vergangenheit des Landes, die es zu überwinden gilt und er beschreibt in dystopischen Bildern die Realität, die sein Land bis vor Kurzem durchlebte. Der daraus entstandene Gedichtband erscheint in jenen kritischen Monaten und trägt den Titel L’anno mille993.
Im August 1975 beschwört Saramago eine notwendige neue Allianz von Volk und Teilen der Bewegung der Streitkräfte gegen die mögliche Konterrevolution. Seine Linie ist klar:

«Entweder begeht die Revolution Selbstmord, dafür reicht aus, dass sie den jetzigen Weg weiterverfolgt, oder die Revolution rettet sich, indem sie den einzigen Weg beschreitet, den die Liquidatoren ihr lassen: Es ist der Weg der Gewalt, der sich unerbittlich gegen die Schuldigen der Gewalt, wer sie auch immer seien, richtet.».
José Saramago: «Poupar o inimigo»
1975 ist Saramago noch kein einflussreicher Schriftsteller, jedoch schon ein Meister des Textes. Die Formel, die er im Aufruf zur revolutionären Gewalt gebraucht, ist absichtlich unbestimmt, denn er weiß sehr genau, dass er mit gefährlichen Argumenten hantiert und er begrenzte deshalb auch die Emphase der Worte.
Sein Appell blieb ungehört und die revolutionäre Phase Portugals endete am 25. November 1975. An diesem Tag versuchte eine Gruppe Fallschirmjäger der Revolution mit einer militärischen Aktion, neue Kraft zu geben. Das Land hielt den Atem an und Saramago schrieb einen letzten Artikel «Und oder Sozialismus?», in dem er die revolutionären Kräfte zur Unterstützung der Aktion auffordert. Aber der Versuch einer Neubelebung der Revolution wird entschärft und es beginnt die Einleitung eines Prozesses, den Saramago später als „Normalität“ bezeichnet. Er gebraucht den Begriff in einem Interview im Tagebuch des Nobelpreisjahres (28. Juni 1998). Dieser „Normalität“ entgegenzuwirken widmete Saramago die restlichen Jahre seines militanten und literarischen Lebens.
Ich denke nicht, dass diese 35 erfolgreiche Jahre, ohne das, im revolutionären Prozess der schwierigen Monate Portugals gereifte Bewusstsein, möglich gewesen wären:
«Sich einer revolutionären Bewegung anzuschließen, heißt begriffen zu haben, dass dein Leben nicht durch die Pläne der Macht geschrieben wird, sondern, dass man es selbst schreiben kann. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. »
aus: La storia come follia e come rappresentazione
Es ist der tägliche Kampf für die Revolution, die Wut über die Niederlage, die den großen Schriftsteller erzeugt.
Es gibt keine Nachkriegszeit
Die Revolution wandte sich in Richtung Entpolitisierung. Die Sozialdemokratie erweist sich als die Partei, die mehrere Errungenschaften der Revolution von 1974 und 1975 vereinnahmt, aber eine grundsätzliche Abrechnung mit der Vergangenheit geschieht bei ihr nicht.
Portugal verändert sich im Laufe der Jahre und Saramago bleibt von der Partei und im Kollegenkreis isoliert. In den auf die Revolution folgenden Jahre, entscheidet er sich, keine Arbeit zu suchen, sondern dem Schreiben zu widmen. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Übersetzungen und einigen Texten, die er auf Kommission schreibt. In dieser Zeit kämpft er auch mutig gegen ein sich abzeichnendes Auftreten von faschistischer Vergangenheitsnostalgie. Seine Romane Levantado do Chão, 1980 (it: Una terra chiamata Alentejo, dt.: Hoffnung von Alentejo, Red.), Memorial do Convento,1982 (it.: Memoriale del Convento, dt: Das Memorial), O Ano da Morte de Ricardo Reis, 1984 (it.: L’anno della morte di Ricardo Reis, dt.: Das Todesjahr von Ricardo Reis), beschreiben Portugals Vergangenheit und zerpflücken die Mythen auf die sich der portugiesische Faschismus stützte. Die Romane brachten ihm Welterfolg.
In den neunziger Jahren nimmt seine Produktion eine eindeutige Wendung. Seine Ambitionen gehen zum Schreiben von Texten über, die jenseits des portugiesischen Kontextes ihre Themen finden. 1995, kurz nach Beendigung des Kalten Krieges veröffentlicht Saramago das Ensaio sobre a Cegueira [Essay zur Blindheit]. Von nun an will ich mich mit diesem Roman befassen.
Man erwähnte in diesen Monaten öfters Romane wie die Geschichte einer schändlichen Säule von Manzoni oder Die Pest von Camus. Der Roman Ensaio sobre a cegueira erzählt die Geschichte einer Epidemie, die sich in rasender Geschwindigkeit in der Stadtbevölkerung verbreitet. Die weiße Blindheit, an der die Stadtbewohner erkranken, ist nicht heilbar und sie hat keine auslösenden Ursachen. Die Ansteckung verläuft so schnell, sodass die Stadtverwaltung völlig überfordert ist. Die einzigen Maßnahmen der Administration bestehen darin, die angesteckten Personen auf Sicherheitsbereiche zu konzentrieren, was aber nicht hilft. Alle Bewohner erblinden, mit Ausnahme einer Frau. In dem Roman wird sie als „die Frau des Arztes“ bezeichnet, die aus irgendeinem seltsamen Grund ihr Augenlicht bewahrt und Zeuge des Grauens ist, das in der Stadt tobt.

Die Analyse des Ensaio sobre a cegueira braucht Zeit und Platz wegen der Vielfalt von Themen, die im Roman angesprochen werden. Es ist aber hervorzuheben, dass die Aktivitäten, welche die „Frau des Arztes“ entfaltet, politischen Charakter haben: ihre Entscheidung für eine Betrachtung, die von moralischen Urteilen frei ist, ihre Verantwortlichkeit für eine kleine Gruppe von Blinden. Auch ihr Diskurs zur Gewalt gegenüber anderen Blinden, die versuchen, von der Situation zu profitieren. Es werden Frauen vergewaltigt, die mit ihnen eingeschlossen sind, und eine der Frauen wird getötet. Der Diskurs ist wert, dass man bei seinen Inhalt verweilt.
Im vorliegenden Kontext ist es jedoch dringend erforderlich, ein großes Missverständnis zu vermeiden, das zwischen den Zeilen mehrerer Kommentare lauert, die wir in den letzten Monaten gelesen und gehört haben: Dieser Roman handelt nicht von einer Epidemie. Es geht nicht darum, wie Menschen werden, wenn eine unerwartete Krankheit sie überwältigt, es geht nicht um das, was wir seit Februar erlebt haben. Die Frau des Arztes sagt es im Dialog mit ihrem Ehemann auf den letzten Seiten deutlich: „Ich glaube nicht, dass wir erblindet sind, ich denke, dass wir Blinde sind: Blinde, die sehen, Blinde, die obwohl sie sehen, nicht sehen“.

Was Saramago anspricht, ist die Blindheit der Normalität. Es ist eine Normalität, welche über die Jahre aufgebaut wurde. Sie ist eine, in der die bestehenden politischen Strukturen, völlig unnütz sind. Sie sind zu wenig anderem fähig, als restriktive Entscheidungen aufzuerlegen. Es ist die Normalität, die er in seinen weiteren Romanen und Erklärungen weiterhin beschreibt: die Normalität des Gemeinsamen Marktes, die Normalität einer von multinationalen Konzernen beherrschten Welt, die Normalität der Finanzwelt. Das sind die Gewalten, die jegliche politische und soziale Struktur prägen.
Aber nicht nur: Es ist auch eine Normalität, die im Laufe der Jahrhunderte geprägt wurde. Saramago beteiligt sich nicht an der Polemik zur sogenannten Postmoderne. Er ist jedoch gut darüber unterrichtet, was Habemas, Lyotard und Jenkins geschrieben haben: «Wir befinden uns am Ende einer Zivilisation und eines Prozesses des Übergangs aus einer Zeit, die ihre Wurzeln in der Französischen Revolution, in der Aufklärung, in der Enzyklopädie hat, und die dazu neigt, zu verschwinden. Ich weiß nicht, was kommen wird».
Nicht ohne Grund erzählt Saramago, dass sie eine weiße Blindheit ist: Das Problem ist nicht die Finsternis, die Abwesenheit von Vernunft oder die Irrationalität. Das Problem ist unsere Rationalität, dies das Licht, welches uns blind macht: «Man erreicht leichter den Mars als unsere Mitmenschen» sagt er 1998 in seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises.
Die Epidemie ist ein Alarmzeichen, das andeutet, wie Welt ist. Es signalisiert unsere unzureichende Art, auf Schwierigkeiten zu reagieren, sodass wir angesichts der vorbeiziehenden Dramen wie Blinde sind. Und, wie die „Frau des Arztes“ feststellt, «Die Blinden sind ständig im Krieg, sie sind es immer gewesen».

Never Ending Wars
Am 15. Februar 2003, gehen Millionen von Menschen der ganzen Welt auf die Straße, um „Nein“ gegen die bevorstehende Bombardierung des Irak zu sagen. Ein Monat später hält sich Saramago anlässlich einer neuen Demonstration in Madrid auf und liest für 400000 Demonstranten das Manifest gegen den Krieg im Irak. Er wendet sich entschieden gegen die Politik von Bush und Blair: «Sie wollen Krieg, aber wir lassen sie nicht in Ruhe […] Das Land gehört denen, die es bewohnen und nicht denen, die unter dem Vorwand eines perversen demokratischen Verständnisses, sie zu guter Letzt ausbeuten, manipulieren, betrügen …».
Der Krieg im Irak beginnt am 20. März 2003. Ein Jahr darauf veröffentlicht Saramago die Erzählung zur Klarheit.

Sie spielt in einer namenlosen Stadt, Hauptstadt eines namenlosen Landes. Es gibt überraschende Wahlergebnisse: Im ersten Wahlgang liegt die Wahlbeteiligung bei gut 70 %, im zweiten ist sie noch höher. Die Regierung gerät in Panik. Es ist etwa so, wie es gerade Trump machte, weil er nicht die gesamte Bevölkerung einsperren kann, hatte er sich hinter den Mauern des Weißen Hauses selbst eingesperrt. Die Regierung der Erzählung verhängt gegen sich selbst eine Strafe, geht ins Exil und verlässt die Stadt. Sie vertraut darauf, dass das nun entstehende Chaos ihre Rückkehr erfordere. In der Stadt aber regiert die Ordnung. Das ist eine tadellose friedliche Revolution und v.a ist sie zauberhaft. Niemand kann sagen wie die Bevölkerung es anstellte, sich zu organisieren. Der Schriftsteller verleiht dieser Frage die Aureole eines magischen Realismus. Es ist die «Klarheit» der Bevölkerung, welche ein beispielloses „Nicht“-Kollektiv geschaffen hat.

Die Regierung im Exil beginnt darüber nachzudenken, wie sie ihre Legitimität wieder erlangen könnte. Schließlich erfolgt im Ministerrat folgender Disput:
«In Kürze werden wir völlig blind herumtappen, klagt der Präsident. Die plötzliche Stille war so scharf, dass davon die Schneide des schärfsten Messer hätte stumpf werden können. Ja, völlig blind, wiederholte er, und er bemerkte dabei nicht die allgemeine Unruhe. Aus dem Saal war die ruhige Stimme des Kulturministers zu vernehmen, ‚Genauso wie vor vier Jahren‘ .»
Kurz darauf erhielt die Regierung eine merkwürdige Mitteilung: Es handelte sich um einen Brief, in dem stand, dass vor vier Jahren eine Frau, während der Epidemie wieder ihr Sehvermögen erlangte und aufgrund ihrer so gestärkten Position einen Mord begangen hat. Die involvierten Personen sind offensichtlich der Protagonist der Erzählung über die Blindheit, sowie die Frau des Arztes, auf welche die Regierung nun Jagd macht, um die Situation zu destabilisieren, und die als Sündenbock dienen muss, um die Rückkehr zur Macht einzuleiten.
Der Zyklus allegorischer Romane von Saramago ist gekennzeichnet durch ihre Ansiedlung in einem anonymen Umfeld. Sie ist der Historie beraubt und jeder kann in diesem Umfeld seine eigene Stadt oder sein Land wiedererkennen. Aber urplötzlich inmitten der Erzählung zur Klarheit kehrt die Geschichte zurück: Diese namenlose Stadt hat eine Vergangenheit, die wir gut kennen, weil er sie in einem anderen Roman erzählt hat.

Für die Portugiesen ist das Band zwischen beiden Erzählungen ( Ensaio sobre la lucidez und Ensaio sobre a cegueira) bis hin zum Titel deutlich zu sehen. Saramago sagte selbst, dass beide Bücher zur Hälfte durchs Schreiben verbunden sind. Und tatsächlich nimmt die Erzählung mittendrin eine unerwartete Wende. Dennoch zeigt das Band zwischen den beiden Büchern schon die Verbindung. Blindheit und Klarheit hängen zusammen. [Anm.Red.: Und auch inhaltlich treten in beiden Romanen dieselben Personen auf.]
In der Wirklichkeit des Romans ist es die Regierung selbst, die dieses Band herstellt und deshalb auch einen Sündenbock finden muss. Sie findet ihn in der Person, die vier Jahre zuvor, die Verantwortung übernommen hatte, ihren Mitmenschen zu helfen und sie, auch unter Anwendung von Gewalt, zu führen.
In dem neueren Roman [Ensayo sobre la lucidez] ist die Frau des Arztes eine Person wie jede andere. Sie trägt keine Verantwortung und hat auch keine Antworten auf das Geschehen. Dennoch ordnet der Innenminister ihre Erschießung an, weil er sie verantwortlich für die schädliche Verbreitung der Epidemie macht. Und im Augenblick der Exekution erfahren wir, in den letzten Zeilen der Erzählung, dass eine dabei anwesende Person gerade erblindete. Die repressive Maßnahme der Regierung leitete eine neue Welle der Epidemie ein.
Was Daniele Giglioli in seinem Buch Status der Minderheiten schreibt, ist ebenso wahr: In Realität ist es die Klarheit selbst, welche die Türen für eine neue Epidemie öffnet.
«Der Sündenfall von Saramago’s Stadt war die Beschränkung darauf, die Regierung zu beseitigen […] Aber das, was sie nicht sehen will, kehrt als Symptom zurück. Deshalb endet der Roman mit dem Rückfall in die Blindheit.»
Giglioli deckt ein großes Missverständnis auf, das auch in verschiedenen kritischen Texten präsent ist: Ensayo sobre la lucidez ist kein Roman über die Revolution. Es ist ein Roman über ihr Scheitern. Das drückt auch klar die Frau des Arztes in dem schon zitierten Dialog in Ensaio sobre a cegueira aus: Nach der Tötung des Anführers der Blinden, welcher der Errichtung einer kolonialen Ordnung über die Blinden für schuldig befunden wurde, spricht die Frau von den Motiven ihres Handelns: „Wir wussten nicht, wie wir uns hätten wehren sollen.“
Saramago war keiner, der auf eine Revolution setzte, welche die Bedingungen der Umwelt unberührt ließ. Er selbst hatte zur Revolution klare und präzise Vorstellungen. In der „revolutionären“ Stadt seines Romans verändert sich nichts: Es verändern sich weder die Beziehungen zwischen Armen und Reichen, oder zwischen den Geschlechtern, noch findet eine Umverteilung des Reichtums statt. Was in der Ensayo sobre la lucidez beschrieben wird, ist nicht die Revolution, die Saramago intendiert, es ist ihr Scheitern.
Ob es uns gefällt oder nicht, in dem Buch wird uns gesagt, dass das, was wir immer noch Demokratie nennen, nicht nur nicht ausreicht, um eine Revolution zu konzipieren, sondern uns auch zu einer sogenannten „Normalität“ zwingt, in welcher der einzige Handlungsspielraum, der uns bleibt, der eines blinden Krieges zwischen uns ist.
Epilog: Blinde Fische in trüben Gewässern
April 1975. Die Wahlen des revolutionären Portugal stehen vor der Tür und es wird diskutiert, wie eine mögliche Stimmenthaltung der Bevölkerung zu interpretieren ist. Saramago wirft das Kriegsbeil in die Debatte:
«Die Abstimmung mit leerem Stimmzettel ist eine Form des Protests gegen 48 Jahre Faschismus, die ja die wahren Schuldigen dieser unklaren Diskussion sind, in der man versucht, Stimmen zu erhalten, wie blinde Fische in trüben Gewässern…»
Saramago: «O branco em discussão»
Saramago ahnt, dass die Jahre der Unterdrückung, die Bevölkerung zum Handeln unfähig gemacht hat. Sie sind wie blinde Fische verfügbare Opfer der Menschenschinder. Das verwundert wirklich nicht, was verwundert ist,dass dreißig Jahre, nachdem diese Sätze geschrieben wurden, Jahrzehnte also, nach dem Fall des Faschismus, Saramago die gleiche Schwierigkeit wahrnimmt.

Inschrift vor der Fundação Saramago di Lisbona (Foto aus dem Web)
Seine erfahrungsbedingten Gedanken sind jedoch etwas anders als zuvor: Die leeren Stimmzettel, die Nichtaktion, die, wenn sie rechtmäßig angewendet werden, den Zusammenbruch herbeiführen, wenn ihnen nicht andere Gründe zugrunde liegen. Dies war bei der portugiesischen Revolution der Fall, und dies ist auch beim ensayo sobre la lucidez der Fall. Der Roman ist nicht unzeitgemäß: Er enthält intertextuelle Verweise, die sich auf einen anderen Roman beziehen, dessen Geschichte dem Erzählten vorausgeht und konkrete Bezüge zu Saramagos Leben hat; er hat auch Bezüge zu unserer Geschichte, die eine gescheiterte Bewegung gesehen hat, die Nein zu einem Krieg sagte, der nie beendet wurde.
Und er hat Bezug zu unserem heutigen Leben.
Saramago starb vor 10 Jahren am 18. Juni 2010.
Die Normalität ist heute mehr denn je ein Problem.
[1] Literaturhinweise: (https://play.google.com/books/reader?id=X121DwAAQBAJ&hl=de&pg=GBS.PP1); (http://www.lavocedifiore.org/SPIP/article.php3?id_article=4450); ↩
[II] Bianciardini: Ein Projekt, das sich an die Leser*innen richtet, das davon ausgeht, dass zur Bildung auch ein guter Geldbeutel gehört, den viele nicht haben. Es ist das Projekt „WENIGSTENS UN CENT, zu dessen Vorläufer die erfolgreiche Reihe Millelire zählt, das heute aber, im Wandel der digitalen Information und Zeit, so nicht mehr existiert. ↩
[Def.: Das Wort ist in keinem Dizionario zu finden und wäre zu übersetzen als einer, der sich nicht scheut, „einem in die Eier zu treten.“ d.Ü.] ↩
- Eskalation eines hybriden Krieges
- Der bewaffnete Arm der Regierung
- Die neue Unordnung der Welt/16: Die Welt innerhalb früherer Grenzen gibt es schon nicht mehr
- Globale Ernährungskrise, Krieg und Neokolonialismus
- Frei: Groß werden am Ende der Geschichte