„Radio Alice ist zweifelsohne auch der Name einer Pizzeria“: das Kapital & 19siebenundsiebzig, Teil 1a

«Radio Alice è senz’altro anche il nome di una pizzeria»: il capitale & il settantasette, 1a parte

Autor: Wolf Bukowski

Das Jahr 1968 ist derzeit besonders in akademischen wie medialen Munden oder wie Pasolini sagen würde, gehören die sich damit befassenden Beiträge nebst Autoren mit pikanter Soße gegessen. Traduzione veröffentlicht hier ein Beitrag zu einem weniger runden Datum, dessen revolutionäre Tradition nun angeblich in einer marktgerechten Verwertung weiterlebt. Der aus dem Italienischen übersetzte Artikel ist ein lesenswertes Lehrstück der integrativen Leistung kapitalistischer Eselei (und ihrer „linken“ Protagonisten), die Gold kacken kann.

 Teil I/Teil 2a

"Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich als Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen." (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, 1940)

Im Dezember 2016 wurde am Hoxton Square die Pizzeria Radio Alice eröffnet, als ein „Abenteuer“ und „Londoner Projekt der Brüder Matteo und Salvatore Aloe, Schöpfer von Berberè“. Das Areal des Veranstaltungsortes wurde auf der Website von Berberè als „einer der lebendigsten und dynamischsten Punkte der Stadt, dank der Präsenz von Künstlern und Design“, beschrieben. Ich würde es viel kürzer definieren: hipster and gentrified. Sechs Monate später folgte eine zweite Eröffnung unter gleichem Namen, „im schönen Dorf/Stadtteil Clapham“, dem jüngsten Ort der Gentrifizierung.

Das echte Radio Alice, sendete dreizehn Monate lang zwischen 1976 und 1977 von einem Dachboden in der Via del Pratello 41 in Bologna. Über Alice wurde in den letzten vierzig Jahren viel gesagt, geschrieben und gefilmt: eine Liste von Büchern, Thesen, Dokumentationen, Filmen, Radiosendungen…. ist hier. In Giap schrieb Valerio Minnella, einer der Protagonisten von damals:

„Normalerweise sagen uns die Leute: „Ihr habt die Geschichte der Kommunikation verändert“ (wie wahr), aber dann wissen sie nur, dass das Radio von der Polizei geschlossen, und wir verhaftet wurden (etwas reduktiv). Sie wissen fast nichts über die Realität des Radios [….] Der einzige Aspekt, der jedem bekannt ist, bleibt der heroische Aspekt der Schließung, aber die Wahrnehmung ist, wie sie behaupten, dass wir die Geschichte der Kommunikation verändert haben, als ob die Verhaftung eine medienwirksame Methode wäre. Ich muss sagen, dass es ein Kurzschluss ist, der mich verblüfft: Trotz der Anerkennung und Wertschätzung, die uns selbst von den am wenigsten erwarteten Leuten entgegengebracht wird, ist das wahre Wesen von Radio Alice oft unbekannt. Aber der Mythos bleibt“.



Die Geschichte der Pizzerien, die ich gleich erzählen werde, bestätigt genau das, was Minnella gesagt hat. Tatsächlich bewegt sie sich zwischen dem Mythos unbestimmter Konturen (dem Mythos des Radios, dem Mythos von ’77 in Bologna) und einem Augenblick, nur einem Augenblick, der auf einer Skala nach und nach erzählt wird: dem der Razzia durch die Polizei, am späten Abend des 12. März 1977. Sie wird begleitet durch die vorgeschobene Anschuldigung der Anstiftung zur Straftat, im Zusammenhang mit den Protesten nach der Ermordung von Francesco Lorusso. Wir werden später sehen, wie und vor allem wo dieser Augenblick reproduziert wird.

«Bərbər… what?»

Salvatore Aloe, einer der beiden Brüder, die Berberè gegründet haben, erzählt auf der Website Carlino, wie sie auf diesen Namen gekommen sind:

„Unsere Tante Francesca hat 1977 den Mythos der gegenkulturellen Stadt an uns weitergegeben. Sie wollte unbedingt, dass unsere Cousine Alice heißt und setzte ihre Schwester unter Druck. Aber mein Großvater wollte nichts davon wissen und so wurde sie letztendlich Simona genannt. Somit ist diese Hommage an Radio Alice seit 35 Jahren ausstehend.“

Ein paar Zeilen weiter erklärt der Unternehmer etwas prosaischer: Die Engländer können „Berberè“ einfach nicht artikulieren. Dies ist jedoch nicht ganz überzeugend, da das Wort Berber existiert und verwendet wird und damit eine breite Basis für die Namensgebung der Pizzerias bieten könnte.

Es verwundert nicht – was auch immer sein wahres Motiv war -, dass diejenigen, die ihre Erinnerung an den Widerstand von 1977 in Bologna bewahrt haben, irritiert sind. Die Website Zeroincondotta (Zic.it) definiert das Aloe-Projekt als „ein eher skrupelloses Projekt“ und schreibt:

„Wenn alles wie geplant läuft, wird -nach London- die Marke „Radio Alice“ am Anfang von weiteren 13 Pizzeriastandorten auf der ganzen Welt stehen. Es gäbe bereits einen großen internationalen Investitionsfonds, der bereit wäre, die Operation zu unterstützen. Wer weiß, ob die Gründer von Radio Alice, die sich als eine kleine Gruppe im Multiplikationsprozess sahen, stolz gewesen wären, Teil einer Bewegung geworden zu sein, die vierzig Jahre später die Vermehrung einer Vielzahl von Pizzerien sieht.“

Bis heute gibt es zu den beiden Londoner Pizzerien Radio Alice weitere acht der Marke Berberé.

Alice im Bernstein des Kapitals

Auf den Artikel von Zic antwortet Salvatore Aloe selbst. Der Brief, den er an die Redaktion schickt, hat die Statur des Modells, des Exemplars. Jedes Wort, das man liest, ist ein Stück und zugleich ein Kompendium der Verwendung von Worten und Konzepten von Marketing und Kapital, die sich auf die Anliegen radikaler Bewegungen beziehen.

„Was für ein Scheiß, für mich, für uns, ist die Pizzeria „Radio Alice“ eine Hommage! Ehrlich. Wir haben nicht beabsichtigt, jemanden zu verletzen oder zu beleidigen oder etwas mit List anzueignen. Ich dachte wirklich, dass Radio Alice für alle geboren wurde, auch für Pizzabäcker! Habe ich das schlecht verstanden? Sind Pizzabäcker ausgeschlossen? Warum? Wir sind keine Intellektuellen. Wir sind Handwerker.“

In seinem Brief beteuert Aloe die Würde der Handarbeit, das Engagement gegen illegale Arbeit, gute Vertragsbedingungen für die Mitarbeiter, den ökologischen Landbau, die volkstümliche Herkunft sowie den Versuch, „den Geist von Radio Alice und derer, die siebenundsiebzig gemacht haben“, mit „den Prinzipien von Respekt, Verantwortung und Freude“ zu vertreten.

Wenn wir den willkürlichen Wunsch, „den Geist“ von 1977 zu repräsentieren, beiseite lassen, gibt es keinen Grund daran zu zweifeln, was er gesagt hat. Es ist so wahr wie das Insekt im Bernstein, aber genau so ist es auch, das Wahre wird vom Harz, also vom Kapital eingefangen und getötet. Wir können es beobachten und lange Zeit umdrehen, indem wir versuchen, Punkt für Punkt zu erkennen und zu kritisieren, indem wir Wehgeschrei über Subtraktion und Subsumtion erheben …. Oder, wir können mit dem Hammer des Materialismus das Dilemma lösen, indem wir das Juwel zerbrechen und dem Insekt natürlich kein Leben zurückgeben, aber ihm wenigstens eine würdige Bestattung geben.

Es ist der Materialismus, der uns sagt, dass Aloe – egal wie er sich selbst sieht – ist ein Unternehmer mit mehr als 50 Beschäftigten, was er paternalistisch (oder, angesichts seines Alters, brüderlich überlegen) „viele Jungen und Mädchen, die mit uns arbeiten“ nennt; und eine noch größere Dosis Materialismus zeigt uns, wie sein Unternehmen sich der Verpflegung von Städten widmet, die immer feindseliger gegenüber den arbeitenden Klassen werden. Platziert man die Berberè-Restaurants mit Stecknadeln auf einer Karte, und unter den meisten Punkten – die wir uns sicherlich in Form einer Pizza vorstellen – kann man die Toponymie  der Gentrifizierung par excellence lesen:

♦ Milano Isola, ein Stadtteil, animiert durch das, was die New York Times „alternative vibe“ nennt;

♦ Florenz San Frediano, wo das „was einst das unbeugsame Element war [….] ausgeschlachtet wird“, um „auf dem Weg der Gentrifizierung das exzentrische, lebendige, schmackhafte, malerische Element zu werden „, wie ein Stadtteilkollektiv 2013 schreibt;

♦ Milano Navigli: von 2007 bis 2017 13% Wertzuwachs der Immobilien , d.h. gerade in den Jahren, in denen die Häuser der dem Tod geweihten Gemeinden im Preis stagnierten und nahezu unverkäuflich blieben;

♦ Verona in der Via dei Pellicciai, der neueste Trend im „Herzen des historischen Zentrums, wo Modegeschäfte, große Namen und „falsche“ Gasthäuser, in dem Sinne, dass sie heute alle vor allem vom Preis her hochwertige Restaurants sind, schrittweise und aggressiv alte Geschäfte und Clubs ersetzen“, wie mir ein Freund aus Verona schrieb.

♦ Dann sind da noch die beiden Londoner Radio Alice, mit „unterschiedlicher Namensgebung bei gleicher Qualität“,

♦ und die von Bologna, wo die „Neugestaltung“ des Universitätsgeländes, koste was es wolle, vorangetrieben wird, zum Klang von „Food Innovation“, Dekor und öffentlichen Geldern (darüber sprechen wir hier, im Abschnitt „Tutta Bologna è Fico“).

Die Entdeckung der Pizza der Weisen

Um zu verstehen, wie Berberé zu Berberè geworden ist (und damit auch zu Radio Alice), müssen wir einen Schritt zurückgehen. Die Brüder Aloe „eröffneten 2010 die erste Berberè Pizzeria in Castel Maggiore, in der Provinz Bologna. Matteo ist 24 Jahre alt, Salvatore 31“, was unter der Rubrik „Wer wir sind“ zu lesen ist. Castel Maggiore ist ein Dorf, aber stellen Sie sich nicht die Pizzeria in einem Bauernhaus mit Glyzinienpergola vor, sondern ein Einkaufszentrum – allerdings mit vielen Ansprüchen, zumindest nach dem Namen „Lifestyle Shopping Center Le Piazze“. Salvatore Aloe erzählt uns bei Dissapore:

„Mit meinem Bruder zusammen, haben wir als Wirtschaftsstudenten, die in den Norden ausgewandert sind, ohne große wirtschaftliche Ressourcen geöffnet. Sagen wir, dass Berberè Nummer eins [in Castel Maggiore] ein Familienprodukt war, geöffnet mit unseren Ersparnissen und denen von Familie und Freunden, die daran glaubten. Auf diese Weise haben wir 70 Tausend Euro gesammelt, die Gesamtinvestition von 400 Tausend Euro, haben wir dank eines Bankkredits gedeckt.

Man beachte das Verhältnis: 82,5% der Investition ist ein Bankkredit, doch im Mittelpunkt stehen die Ersparnisse der (Tanten-)Familie. Dasselbe geschieht, wenn Aloe mit dem Gambero Rosso über die zweite Eröffnung im Stadtzentrum spricht:

„Zuerst suchten wir einen Platz in Bologna, aber mit den wenigen Euro, die uns unsere Tanten zur Verfügung gestellt hatten, konnten wir es uns nicht leisten, das Geschäft zu kaufen.“

Der Sprung aus der Provinz in die Via Petroni, 500 Meter von den beiden Türmen entfernt, erfolgte im Jahr 2013. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass das gerade dann stattfindet, wenn ein wichtiger Partner das Feld betritt: Alce Nero. Die Pizzeria im Universitätsviertel heißt Alce Nero Berberè. Doch bevor es zum Markenzeichen des Sioux-Ritters kommt, benötigt die Geschichte von Berberè eine Nebenperson, um diesen Schritt als handgemacht darzustellen: den Mitbewohner.

„Eine der beiden Töchter von Lucio Cavazzoni (Chef von Alce Nero) war die Verlobte des ehemaligen Mitbewohners von Matteo; sie war es, die uns mit ihrem Vater in Kontakt brachte, mit dem wir eine Mehlmischung für unsere Pizzas entwickelten. Angesichts der Verbundenheit übernahmen wir einen ihrer Läden, von denen im Restaurant selbst noch ein kleiner Laden blieb, um nicht alles zu entfernen, was gewesen war. Schließlich trat auch Alce Nero in das Unternehmen ein, wobei eine Minderheitsbeteiligung von unseren Tanten erworben wurde.“

Wichtig ist nicht der Wahrheitsgehalt der Erzählung, sondern das Verständnis dessen, was sie zu einer erbaulichen Geschichte macht, perfekt für das Buch „Geschichten zur guten Nacht im realen Kapitalismus“. Die Antwort ist einfach: die Kombination „Tante“ + „Mitbewohnerin“, das unverwechselbare Aroma von Möglichkeit, Machbarkeit, Nähe. Viele haben eine Tante mit einigen Ersparnissen, und Mitbewohner haben oft Freundinnen: Wie kann man nicht davon träumen, dass die Synthese dieser beiden gemeinsamen Elemente in wenigen Jahren zur Gründung eines „Taschen-Multis“ führt? (Dies ist die Definition von Berberè, die von Gambero Rosso im zitierten Artikel gegeben wurde). Die Geschichte ist also eine von jenen, die den Stein der Weisen gefunden haben, die Pizza der Weisen, die den Zuhörern ins Ohr flüstert:

„Du, genau du: Willst du nicht der Nächste sein?“ Rufen Sie Ihre Tante sofort an, um herauszufinden, ob sie die allergische Rhinitis überstanden hat, und legen Sie sich Ihren Mitbewohner Tinder zu: Es ist Zeit, dass Sie jemanden treffen und ihn nach Hause bringen! Beeilen Sie sich!“

Im Gegensatz zu der der Gebrüder Aloe, wird die Geschichte derjenigen, die sich bei ihren unternehmerischen Abenteuern verschuldeten, auch wenn sie viel zahlreicher sind, nicht erzählt, sondern bleiben trockene Statistik. Und die wird verbannt auf die Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen, die nach eingefleischter Tradition, am wenigsten beachtet werden:

„Immer mehr Unternehmer sind bereit, auf die Freuden des Kochens und eine gute Tasse Kaffee zu setzen [….] aber nur wenige können ihr Geschäft 5 Jahre nach der Geburt weiterführen. Von den 2011 gegründeten Unternehmen haben 3 von 4 ihre Rollläden innerhalb von fünf Jahren abgesenkt und mehr als 45% konnten dem dritten Lebensjahr nicht widerstehen. (La Repubblica, 29. Dezember 2016)“

Der Sioux-Ritter und das Regiment der Legacoop

Eine Collage für Alce Nero Berberè auf der Bio-Messe Sana 2015.

Die Geschichte des „revolutionären“ Kribbelns von Berberè (und damit der Pizzeria Radio Alice ) ist nichts anderes als die Wiederholung der Farce aus der Geschichte ihres Geschäftspartners Alce Nero. Die landwirtschaftliche Genossenschaft Alce Nero wurde aus den Wirren der siebziger Jahre geboren. Sie wurde 1977 in Isola del Piano, im markischen Land gegründet, geprägt von einem christlichen und sozialen Umweltbewusstsein. Zu den Zielen dieser Gruppe von Bauern und Intellektuellen, jung und alt, gehörte die Abschaffung „alter Zielsetzungen“ und „alter Privilegien“ und die Entwicklung von Sozialität, Wirtschaft und Lebensformen als Alternative zu denen des kapitalistischen Produktivismus.

Unter den Gründern befand sich Gino Girolomoni, ein klobiger und charismatischer Charakter, dessen Name immer von der fast biblischen Definition des „Vaters“ oder „Propheten“ des italienischen Biolandbaus begleitet wird. Girolomoni war Kooperator und Landwirt, Kulturförderer, lokaler Verwalter, Mann des Glaubens und politischer Aktivist bei den Grünen.

Von Gino Girolomoni zu Mauro Corona, so fiel die Persönlichkeit des bäuerlichen Intellektuellen vom Himmel.

Über Girolomoni ist viel geschrieben worden, aber was hier interessiert ist, wie Alce Nero, ein landwirtschaftliches Projekt, das eine gewisse Radikalität ausdrückte (es ist besser, das Adjektiv „revolutionär“ nicht zu missbrauchen, im Gegensatz zum Marketingpersonal der Pizzerien), völlig den Regeln des Marktes unterworfen wurde. Die grundlegende Passage, in der dies geschieht, wird also von den Nachfolgern Girolomonis erzählt:

„1999 gründeten Cooperativa AlceNero und Cooperativa Conapi die Firma „Mediterrabio S.r.l.“, die ihre jeweiligen Marken „Alce Nero®“ und „Mielizia®“ vertrieben. Im Jahr 2000 kam Coop Fond [….] als Finanzierungspartner hinzu. Von da an wird das Management zunehmend von Vertrauenspersonen aus Conapi und Coop Fond begleitet, wobei die Alce Nero Cooperative allmählich ausgeschlossen wird. Der Mangel an gemeinsamen Geschäfts- und Handelsstrategien und die Unmöglichkeit, in die wichtigsten Entscheidungen einzugreifen, zwingt die Cooperativa Alce Nero, die Unternehmensstruktur von Mediterrabio zu verlassen.“

Um unhaltbare Auseinandersetzungen vor Gericht zu vermeiden, schreiben die Nachfolger weiter, wird die Marke Alce Nero schließlich an die ehemaligen Gesellschafter verkauft. Lucio Cavazzoni, Vater der Braut des Mitbewohners von Aloe und lange Zeit Chef des neuen Alce Nero, erinnert sich noch konkreter an den Punkt der Zerreißprobe:

„Wir haben stundenlang diskutiert, Strategien studiert und die Richtung für unsere Arbeit gewählt. Um neun Uhr abends schien alles geklärt, wir hatten uns geeinigt. Dann, plötzlich, um sieben Uhr morgens, klingelte das Telefon. Es war Gino, der mich anrief, um mir zu sagen, dass er seine Meinung geändert hatte, dass wir aus der großen Distribution aussteigen sollten „weil“ – sagte er – “ Sie begreifen nicht, was die Hölle ist? Damals fingen wir wieder von vorne an. Aber es war unmöglich. Da war irgendetwas zu Tiefgreifendes an der Basis, das uns trennte.“ [Die Saat von tausend Umwälzungen („Ponte alle Grazie“, 2014), S. 76.]

GDO1 ja oder GDO nein: das waren die Begriffe der Frage (also lassen wir die Hölle aus dem Spiel). Welche Kräfte sich durchgesetzt haben, ist klar. Werfen wir einen Blick auf die Regale, in denen die Produkte angeboten werden: Coop, Carrefour, Auchan, Panorama und NaturaSi.

Alce Nero ist auch bei Fico Bologna2, einem dystopischen Park von Farinetti, mit eigenem Platz zu finden. Vor der Eröffnung von Fico Alce Nero wurde auch davon geträumt, einen Hektar Bio-Land am Stadtrand zu bewirtschaften. Das Projekt verschwand in der Versenkung: Vielleicht schien die Idee des biologischen Anbaus, mit den Emissionen der nahen Verbrennungsanlage von Hera gedünkt, aus kommunikativer Sicht nicht wirklich erregend.

Der soeben erwähnte Coop-fond ist eine Art Finanzgesellschaft („Investmentfonds“) von Legacoop. Und Legacoop ist die „Confindustria3“ der [Unternehmerverband der] „guten Bosse“: jene also, die sich nicht mit der Ausbeutung von Territorium, Arbeitern und Gemeingütern zufrieden geben, sondern gerade deshalb geliebt werden wollen. Natürlich gehört auch Alce Nero zu letzterer „Confindustria“. Auch wenn das Unternehmen, das den Namen der Marke trägt, den Charakter einer Aktiengesellschaft hat.

„Karottensnacks“ Alce Nero für 13,20 Euro pro kg. Daneben gewöhnliche Möhren zu 1,29 pro kg zur gleichen Zeit und im selben Supermarkt (August 2017, Provinz Bologna). Was wählt der Käufer für eine einkommensschwache Familie? Für wen ist das biologisch?

Das „gut, sauber und fair“ von Alce Nero (der Slogan ist schon jetzt derselbe wie bei Slow Food) ist ebenfalls sehr einträglich. Die Gruppe „schloss das Jahr 2015 mit einem Umsatz von 64,739 Millionen Euro [….] mit einer positiven Entwicklung in allen Vertriebskanälen ab und bestätigte damit einen seit über 10 Jahren anhaltenden positiven Wachstumstrend“ (auf der Website des Unternehmens).

Das Jahr 2016 ist noch besser und der Umsatz erreichte 74 Millionen Euro.

Nach Angaben von Deborah Santoro im Jahr 2013 stammen mehr als 20% der Einnahmen von Alce Nero aus dem Export (nach Nordamerika und Asien) und 60% aus dem Verkauf von Produkten im Supermarktregal.

„Gegenkulturell“ ja, aber gegen wen?

Aber zurück zu den Tagen im März 1977:

„Als der Abend in Bologna anbricht, steht ein Firmensitz von Fiat in Flammen, die Boutiquen und Banken des Zentrums werden zerstört, die Büros von „Il Resto del Carlino“ sind zertrümmert. Selbst ein Luxusrestaurant im Universitätsviertel, das bekannte [Al] Cantunzein, wurde gestürmt und geplündert. Auf den Barrikaden konnte man exzellenten Vintage-Barolo trinken.“ [Alice è il diavolo, herausgegeben von Bifo und Gomma (Shake, S. 20 der Ausgabe 2007)]

Auf diesen Teil der Geschichte, der im Bernstein des Kapitals schwer zu fassen ist, wird verzichtet. Im Kegelschatten der Vertuschung ist die Rede vom „Mythos der gegenkulturellen Stadt“, wie es Aloe im Interview mit Carlino tut, einfach eine Form des Schweigens, gegen wen und gegen was dieses Stück Stadt und ihre Kultur, die sie hervorgebracht hat, sich auflehnen.

  Via Zamboni, Bologna, 11. März 1977. Szenenfoto des Films Lavorare con lentezza (2004), aufgenommen von Chico De Luigi.

Hätte es damals die Pizzeria Radio Alice in der Via Petroni gegeben, dann wäre sie wahrscheinlich dem Schicksal von Cantunzein gefolgt, und (das echte) Radio Alice hätte dieser Aktion seine Stimme gegeben. Über seine Frequenzen hörte man live in einer Telefonzelle die Geschichte von der Enteignung der Pizzeria, von den Säcken mit teurem Bio-Mehl, die auf die Schultern geladen und für die proletarische Küche bestimmt wurden, von den riesigen Gläsern mit Alce Nero-Tomaten, die in Richtung der Polizeiformation rollten.

Und da es sich um Radio Alice handelt, das spottende Radio Alice, wäre man sich nicht einmal sicher gewesen, ob dieses letzte Detail wahr ist, oder ob es stattdessen eine Verhöhnung der „Blaumiesen“ war, um sie mit purzelnden Tomaten zu verängstigen.

Ende des ersten Teils. Im zweiten Teil sind die Pizzen (und die Toilette) von Radio Alice, die erhellenden Dokumente des Amtes für geistiges Eigentum der Regierung Ihrer Majestät an der Reihe und das Finale verheißt eine unerwartete Rückkehr: die der Ordnungshüter. Bleiben Sie dran, es muss gesagt werden!

Teil 2a  [Übersetzung wird am 21.01.19 veröffentlicht]

1. mit GDO ist die Verteilung über Supermarktketten gemeint (siehe auch: https://it.wikipedia.org/wiki/Grande_distribuzione_organizzata

2. Fico = Fabbrica Italiana Contadina [italienische Landwirtschaftsfabrik]; hier: Bilderschau der Lebensmittelzeitung

3. italienischer Unternehmerverband (Confederazione Generale dell’Industria Italiana)

 

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