Klassenkampf, murmelte das Gespenst

eine Miniserie in zwei Teilen/1

Übersetzung des Beitrags von Mauro Vanetti

"Wir alle haben eine Freundin, einen Genossen,  Verwandte, Nachbarn, Kollegin, die noch vor ein paar Jahren eindeutig links waren, seit einiger Zeit aber die Manie haben, zwielichtige Blogs zu lesen, Facebookseiten zu folgen, die perplex machen, und nurmehr ausgemachten Unsinn verzapfen, den sie als wichtigen Beitrag gegen den Strom ausgeben, der aber an Salvini erinnert, jedoch als scheinbar "kommunistische" Version ....".

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Ein Gespenst nimmt uns mit an die Orte des Klassenkampfes, wo wir sehen, dass bestimmte "marxistische" Diskurse gegen die Einwanderung nicht nur nicht marxistisch sind, sondern auch einen Betrug an den Werktätigen darstellen: an Migranten wie Einheimischen.

INHALT/TEIL I

1. Die erste Nacht
2. Solche wie Diego
3. Marx und die industrielle Reservearmee
4. Die zweite Nacht
5. Marx und das Gutmenschentum


È importante frequentare i kebabbari, soprattutto di sera

Die erste Nacht

Ein Gespenst wandelte in der Nähe eines Dönerladens. Es war angesäuselt und sang auf Französisch. Drei schläfrige Studenten und einige Tunesier beobachteten es mit Neugier. Die letzteren verstanden den Text des Gassenhauers und lachten.
Das Gespenst bestellte einen Kebabteigfladen, um den reichlich konsumierten Barolo trocken zulegen.

„Soll’s pikant sein?
„Total!“, antwortete die männliche Gestalt. Sie trug einen Stoppelbart und hatte die olivgrüne Haut eines Sarazenen.

Nachdem das nächtliche Mahl hinunter geschlungen war, wurde das Gespenst allmählich nüchtern. Es las das Straßenschild an der Ecke und begann zu schmunzeln, denn ihm kam die Idee, den Zeitgenossen einen herrlichen Streich zu spielen.

Prima apparizione dello spettro

Diego fühlte, wie ein kalter Finger seine Stirn berührte und erwachte plötzlich, voll Entsetzen über das seltsame Gefühl. Seine weit aufgerissenen Augen erblickten die transluzente Gestalt eines Alten, die ihn aus dem Dunkel ansah. Seine lebhaften Augen blinkten unter dichten Augenbrauen.

„Buh!“, sagte das Gespenst sanft, setzte sich auf den Bettrand und schlug die Beine übereinander. Diego schrie, zitterte, kullerte aus dem Bett und landete in einer Ecke des Raumes.

„Da kriegst du die Motten!“, stammelte er schließlich in dünner Stimme. „Bist du der Geist der letzten Weihnachtstage?“
„Ach was…, zugegeben etwas Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann besteht, doch bezüglich der Feiertage wäre ich lieber der Geist des Ersten Mai.“
„Wirklich aber bin ich das Gespenst Karl Marx!“
„Meister!“, rief Diego und kniete voller Ehrfurcht vor dem Ektoplasma.
„Blödsinn Meister. Du bist ein Esel. Ich bin gekommen, um dir einige Dinge zu zeigen. Zurück ins Bett, wir fliegen“

Ohne weiter zu zögern gehorchte Diego, der noch immer etwas verwirrt vom übernatürlichen Verlauf des Geschehens war.  Der Geist stand würdevoll auf dem Bettlaken und führte das Kommando. Mit einem Fingerschnipsen ließ Karl Marx das ganze Haus verschwinden und das Bett inmitten der Sterne schweben. Es begann eine unglaubliche Reise durch Raum und Zeit, an deren Ende schon eine Weile die Landschaft Apuliens im Morgen dämmerte.

Assemblea a Nardò

„Wir sind im Jahr 2011, es ist August und wir befinden uns in Nordó, Provinz Lecce“, sagte Marx. „Schau hin, was auf diesem Gutshof passiert.“
Dutzende Afrikaner waren vor dem Eingang eines niederen, quadratischen Gebäudes versammelt. Seine von der Sonne verbrannte, rosa graue Tönung und das Flachdach ähnelte einem mexikanischen Pueblo. Drum herum standen provisorisch aufgebaute Zelte und an der Fassade des Gebäudes hing ein Transparent.
„Verköstigte Flüchtlinge?“, fragte Diego, die Augen runzelnd.
„Nein“, sagte Marx und zog den Jungen am Ohr. „Schau genauer hin, Taglöhner, die streiken.“

Ein Italiener, das Megafon in der Hand, verwies darauf, dass nun schon drei Tage in Folge die Tomatenernte lahm gelegt wurde. Er versicherte dem Streikführer, einem Studenten aus Kamerun, seiner Solidarität, der von den Vorarbeitern nach mafiöser Art bedroht wurde. Nach ihm sprach ein Ghanese, der die Forderungen erklärte:

♦ Lohnzuschlag, wenn die Tomaten nach Größe sortiert werden.

♦ Schluss mit der Schwarzarbeit.

♦ Sicherheits- und Sanitärkontrollen auf den Feldern.

♦ Direkte Verhandlungen zwischen Padroni 1 und Arbeitenden
unter Einbeziehung der Gewerkschaften, der Arbeitsvermittlung, jedoch ohne        Einmischung der Vorarbeiter

Ein anderer Teilnehmer ergreift das Wort und erklärt in holprigem Italienisch, dass ein weiteres schwerwiegendes Problem der Immigranten angegangen werden sollte: Die Vorarbeiter benützten die Personaldokumente, die sie einbehalten, als ein Instrument der Erpressung, und händigen lediglich deren Fotokopien aus. Ohne Dokumente und mit dieser Hautfarbe bestünde ständig die Gefahr, „dass die Polizei Dir großen Ärger macht“. Und auch dies wird im Streikprotokoll festgehalten.

Klassenkampf„, murmelt das Gespenst begeistert.

Karl Marx legge un libro di merda

Solche wie Diego

Wir alle haben eine Freundin, einen Genossen,  Verwandte, Nachbarn, Kollegen, die noch vor ein paar Jahren eindeutig links waren, seit einiger Zeit aber die Manie haben, zwielichtige Blogs zu lesen, Facebookseiten zu folgen, die perplex machen, und nunmehr ausgemachten Unsinn verzapfen, was sie als wichtigen Beitrag gegen den Strom ausgeben, der aber an Salvini2 erinnert, jedoch als scheinbar „kommunistische“ Version. Manchmal sind wir ja selbst diese Person. Das Thema, bei dem die schlimmsten Ausrutscher passieren, ist immer dasselbe:  ‚die Einwanderung‘.

Untersuchen wir mal eine diesbezüglich typische Konversation unseres Bekannten. Der Einfachheit halber nennen wir ihn Diego. Zuerst könnte passieren, dass uns Diego beteuert, wirklich kein Rassist zu sein und dass er Faschisten und Lega3 hasse. So würde er uns auch, um seine „Rassenreinheit“ als Genosse unter Beweis zu stellen, das Widerstandslied „I morti di Reggio Emilia“ vorsingen, ohne dabei nur einen Namen zu verwechseln. Und er würde uns auflisten wie viele Male er ebenso wie wir gewählt oder mit uns das Sozialzentrum besucht oder an unserer Seite demonstriert habe. Eines ist sicher: Faschist ist er nicht geworden.

Es ist ihm auch klar, dass die Rechte „durch unsere Schuld“ weltweit Fuß fasst. Genau so drückt er sich aus: „unsere“, wo er vor kurzem noch bis zum Hals drin steckte. Aber, erklärt er, die Genossen haben sich darauf festgelegt, „Gutmenschen- und No-Border Positionen“ zu vertreten, welches Positionen des Großkapitals seien. Laut Diego brauchen die Padroni billige ausländische Arbeitskraft und befürworten deshalb auch die Immigration.

An dieser Stelle beginnt das Gezänk, das Diego damit zu beenden versucht, dass er sein Ass aus dem Ärmel zieht: „Auch Marx schrieb, dass die Immigranten  die industrielle Reservearmee bilden!“

Laut Diego sind es also die ihren Ursprungsländern entwurzelten und zu allem bereiten Arbeiter/innen, welche von den Padroni zur Erzielung niedriger Löhne benützt werden. Sollte das Gespräch online geführt werden, wird uns Diego einen Link zu diesen kuriosen Blogs, die neuerdings grassieren, schicken, wo Zitate von Marx zu lesen sind, die laut Diego beweisen, wer gegen Migration ist, das Proletariat verteidigt. Sollten wir offline sein, wird er uns diesen Link auch zukommen lassen, damit wir die Zitate später nachlesen können. Solche wie Diego legen viel Wert darauf, die Worte, die ihnen die Augen geöffnet haben, mit anderen zu teilen, die von den Allgemeinplätzen zur Zuwanderung einer -chic und globalisierten – radikalen Linken wegführen.

Sono antirazzista ma


Auf dem Bustransparent steht:

Italiener werden nie mehr Invasoren sein!
Nie mehr werden sie Verräter sein!

Bild links: „Links und antirassistisch, aber gegen die Invasion der Ausländer.“


In diesem Artikel werden wir uns bemühen, zwei falsche Glaubenssätze zu demontieren: dass „die einstmals wahren Marxisten“ eine migrantenfeindliche Haltung rechtfertigten, und dass eine Politik gegen die Immigration dem Klassenkampf nützt.

Wir hören schon den Einwand: das sind ja nur marginale Meinungen einer Gruppe unbedeutender Agents provocateurs; niemand von Bedeutung benützt Marx, um  Salvini zu unterstützen!

Leider stimmt das nicht. Dies ist das Credo des Dokumentes, das Matteo Salvini bei der Kandidatur zur Leitung der Lega Nord veröffentlichte:


Programm der Kandidatur zum föderalen Sekretariat
der Lega Nord für die Unabhängigkeit Italiens

Matteo Salvini

A) Internationale Situation

Es gibt drei sehr wichtige Systemwidersprüche, die den Westen dieser Zeit charakterisieren: das Primat der Finanzökonomie über die Staaten; der starke Zuwanderungsdruck auf Europa; die demographische Krise, welche die Völker Europas peinigt. Unter Verzicht jeglicher Nuancierung der Erfordernisse einer Synthese geschuldet, ist völlig klar, dass in diesem Rahmen die hauptsächlichsten Herausforderungen ableitbar sind, die wir im Namen des Überlebens  unserer zugehörigen Gemeinschaften verpflichtet sind, zuallererst zu lösen.
Auf geopolitischem Gebiet stehen wir heute vor den aggressiven Schüben derer, die sich an den Bürgerkriegen bereichern; auf europäischer Ebene sehen wir, dass die politische und ökonomische Macht sich in wenigen Händen konzentriert, die ein konsequentes begünstigtes Vasallentum der herrschenden Klassen begleitet. Standortverlagerungen, Handelsinvasionen und unfaire Konkurrenz erzeugen tagtägliche Tragödien; die billige Arbeit, hervorgerufen durch unkontrollierte Zuwanderung, beliefert die industrielle Reservearmee. Wir sind Zeugen des Entstehens islamischer Gemeinschaften, dies unter den Augen der lokalen und internationalen, politisch Verantwortlichen. Dies geschieht mit allen nahe liegenden Risiken für unseren Lebensstil und unsere fundamentalen Freiheiten.


Die farbig hervorgehobene Stelle ist eine falsche Zitierung des Kapitals von Marx

3. Marx und die industrielle Reservearmee

Wir beginnen also mit der gesegneten Reservearmee. Marx schreibt darüber eingehend im Kapitel 23, VII. Abschnitt, Bd. 1 des Kapitals. Die industrielle Reservearmee sind die Arbeitslosen.

Zu Marx‘ Zeiten waren simple Ansichten an der Tagesordnung, denen gemäß die Arbeitslosigkeit dem Umstand des ‚Kinderreichtums‘ der Arbeiterfamilien geschuldet sei. Die bekannteste und brutalste Version davon repräsentiert die Überbevölkerungstheorie von Malthus, in der die Armut als natürliche Konsequenz einer exzessiven Fertilität der arbeitenden Klassen beschrieben wird. Die heutigen Malthusianer, so auch unser Diego, haben bezüglich der niedrigen Kinderrate italienischer Arbeiterfamilien, eine neue – noch borniertere – Erklärung gefunden: Die Armut ist Konsequenz der exzessiven Fertilität der Afrikaner.4

Marx hingegen formuliert einen differenzierteren Gedanken: es liegt in der Entwicklung des Kapitals und der Marktwirtschaft selbst, automatisch eine relative Überbevölkerung zu erzeugen, d.h.: eine bestimmte Quantität an Arbeitskraft, die der Produktion verfügbar bleibt, auf Abruf ruhig zu stellen. Diese relative Überbevölkerung, also die Arbeitslosen (und Unbeschäftigten), bildet so etwas wie eine ‚Reserve‘ im Heer des von den Firmen benötigten Proletariats.5 Gleich einer wirklichen Armeereserve, kann sie nach Notwendigkeit mobilisiert werden. Diese Notwendigkeit geschieht periodisch auf Grund eines zyklischen Verlaufs des Kapitalismus Expansion – Krise – Erholung), der seiner Natur nach fortgesetzt die Produktivkräfte revolutioniert und die Arbeitskraft innerhalb der verschiedenen oder zu den neu geschaffenen produktiven Sektoren verschiebt. Wollte der Kapitalismus darauf warten bis neue Arbeiter/innen geboren werden und ins Arbeitsalter eintreten, wäre das immer dann sein Ruin,  wenn es gälte, neue zu rekrutieren: er muss in der Lage sein, dies sofort zu tun, genauso wie er sich bei Bedarf schnellstens der überflüssigen Lohnempfänger entledigen muss.

Der Gedanke von Marx ist, dass es eine dem Kapitalismus immanente Arbeitslosigkeit gibt, die nichts mit der demographischen Entwicklung zu tun hat. Dies wurde innerhalb kurzer Zeit Mainstream und selbst bürgerliche Ökonomen sprechen von natürlicher und zyklischer Arbeitslosigkeit.

Leggerlo prima di citarlo mentula canis

Laut Marx setzt sich die industrielle Reservearmee aus drei Komponenten zusammen: fließend, stagnierend und latent.,

Die fließende Überbevölkerung wird von den Entlassenen gebildet: von der Produktion ausgeschlossen, versuchen sie an anderer Stelle den Wiedereintritt. Manchmal, so sagt Marx, emigrieren sie. Zu diesen Zeiten war die Jugendarbeitslosigkeit kein ernstes Problem. Er richtete sein Interesse vor allem auf die erwachsene Arbeiterschaft, die durch Jugendliche oder sogar durch Kinder ersetzt wurde; heutzutage müssten wir auch viele  unbeschäftigte Jugendliche zu dieser Komponente zählen (z.B. die noch keinen ersten Arbeitsplatz gefunden haben).

Die stagnierende Überbevölkerung bildet das Prekariat6. Obwohl man das meistens nicht vermutet, existierte das Prekariat schon zu Zeiten von Marx und Engels. Das Kapital rekrutiert aus dem Prekariat, das diskontinuierlich oder partiell beschäftigt bleibt, neue Fulltime-Arbeitende, wenn die Erhöhung der gebrauchten Arbeitskraft erforderlich wird.

Die latente Überbevölkerung konstituiert sich aus der Landbevölkerung im Prozess der Urbanisierung. Viele Einwanderer aus weniger industrialisierten Ländern gehören zu dieser Unterkategorie; jedoch der größte Teil von ihnen in Italien, stammt vermutlich aus den Städten.

Wie wir sehen können, verlangen die anderen Kategorien, abgesehen von der latenten Überbevölkerung, die im Westen fast erschöpft ist, nicht, dass sich das Kapital aus externen Quellen speist, um die Armee der Arbeitslosen zu füllen: Es genügt, wenn innerhalb der bereits vorhandenen Arbeiterklasse Spaltungen im Beschäftigungsstatus geschaffen werden. Dies zeigt sich sehr gut an der Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Italien im letzten Jahrhundert: Sie war schon vor den jüngsten Migrationswellen vorhanden und hat sich im Hinblick auf die Ein- und Ausfuhr von Arbeitskräften nicht erhöht oder verringert.

Ein noch markanteres Beispiel liefert der Süden Italiens: Viele Menschen wandern aus Süditalien aus, und doch hat dies nicht zu einem Mangel an Arbeitskräften geführt, im Gegenteil, die Arbeitslosigkeit ist in den Gebieten maximaler Auswanderung höher; Diego wird auch verstehen, dass, wenn wir glauben, Einwanderung schaffe Arbeitslosigkeit, man auch annehmen sollte, dass Auswanderung Arbeitsplätze schafft: aber das geschieht nicht.

Welche Auswirkungen haben nach Marx die Arbeitslosen auf die Löhne (und damit praktisch auf jeden)? Sie werden abgesenkt. Selbstredend senkt der Wettbewerb unter den Proletariern den Preis der Arbeit. Das ist einer der Vorteile der industriellen Reservearmee für die Kapitalisten und der hauptsächliche Betrug an den Beschäftigten. Wenn es keine anderen Faktoren gibt, um diesen Schub auszugleichen (Faktoren, die glücklicherweise existieren!), würde die Existenz von ’natürlicher‘ Arbeitslosigkeit die Löhne dazu bringen, sich auf dem Existenzminimum zu stabilisieren.

neofaschistisches Flugblatt, 2018

(Übersetzung ⇒) WAS SAGTE KARL MARX?   


INDUSTRIELLE RESERVEARMEE?

Die Immigation dient dazu, soziale Rechte und Schutz abzubauen, Europa in eine Dritte Welt zu verwandeln, uns zu einer erbärmlichen, prekären, ausgebeuteten Masse ohne Rechte zu machen.

Die LINKE von heute zerreist nicht die Ketten, sondern kämpft für die Ketten!
Nicht   GEGEN, sondern FÜR die herrschenden Finanzeliten!

WÄHREND SIE VON RECHTEN, ZWECKMÄßIGKEITEN UND EMANZIPATION QUATSCHEN, DRESSIEREN SIE UNS ZU NEUER VERDAMMNIS UNS SKLAVEREI!

NATIONALES PROJEKT
http://www.progettonazionale.it



Wie wir sehen können, war Marx nicht der Meinung, dass der Kapitalismus Hilfe aus Afrika benötigt, um die europäischen Arbeiter auszubeuten: seine innere Dynamik ist ausreichend. Aber Marx war nicht einmal fatalistisch: Er glaubte, dass die Tendenz des Kapitals, die Proletarier in armselige Kreaturen zu verwandeln, die es kaum schaffen zu überleben, konterkariert werden könnte; er glaubte so sehr daran, dass er sein ganzes Leben diesem Versuch widmete. Was hatte Marx vorgeschlagen, mit der industriellen Reservearmee zu tun?

Sicherlich nicht, ihr den Krieg zu machen. Er schlug vor, sie in die Kämpfe der Arbeiterklasse zu integrieren und möglicherweise zu versuchen, sie in der Klasse selbst wieder aufzunehmen: zum Beispiel, indem die Arbeitszeit verkürzt wird, um die verfügbaren Arbeitsplätze unter allen umzuverteilen, wodurch die Arbeitslosigkeit und die Möglichkeit der Arbeitgeber, sie auszunutzen, verringert werden; zum Beispiel, indem die Bedingungen einer stagnierenden Überbevölkerung mit denen aller anderen vereinheitlicht werden und die Unternehmen daran gehindert werden, Arbeitskräfte in einer prekären Weise einzusetzen.

Man wird keine Appelle von Marx und Engels finden, den Prozess der Verstädterung von Bauern zu stoppen, von deren brutalem und entfremdendem Charakter sie auch oft gesprochen haben, sondern eher positive Töne zur progressiven Wirkung dieser Migration der Ausgebeuteten. So beschreiben sie das Handeln der Bourgeoisie in diesem Sinne:

„Sie hat riesige Städte geschaffen, sie hat die Größe der städtischen Bevölkerung im Vergleich zur Landbevölkerung in großem Maßstab erhöht und damit einen bedeutenden Teil der Bevölkerung aus der Stumpfsinnigkeit des ländlichen Lebens gerissen. (Manifest der Kommunistischen Partei, Kap. 1)“

4. Zweite Nacht

Seconda apparizione dello spettro

Diego war schläfrig. War das in der ersten Nacht nur ein schlechter Traum? Oder war es tatsächlich ein Geist? Was hätte dazu Hegel gesagt? Vermutlich hätte er versucht, die Phänomenologie des Geistes zu ergründen. Ha, ha…! Nein, er kann darüber nicht lachen. Auch sein Sinn für Humor hat nachgelassen.

Was, wenn der Geist von Marx Recht hatte? Schließlich sind die Bücher, die Diego so oft zitiert hat, nicht derart, dass er sie mit philologischer Akribie gelesen hätte. Einige hatte er gar nicht gelesen. Und darüber hinaus, wer wird im XXI. Jahrhundert in Italien, sich noch wirklich an Marx abarbeiten?  Ihn zu zitieren, war eher eine Art Ehrenbezeugung. Die Essenz bestand doch darin, vor dem einwanderungsbedingten Turbomondialismus zu warnen…

Die Tür wurde weit aufgerissen.
„Was ist, wir brechen auf! Beeil Dich!“ tönte laut und heiter die Stimme des bärtigen Gespensts, das in den Raum platzte. „Beim Jupiter, wo geht’s hin?“ fragte Diego erschrocken und um eine weitere Nacht im Pyjama zu vermeiden, beeilte er sich, Schuhe anzuziehen und in den Paletot zu schlüpfen. „Heute geht’s in die Emilia. Ich will Dich mit einigen Geschichten vertraut machen!“ Diego machte auf seinem Bett Platz für den weltbekannten deutschen Philosophen, Ökonomen und Revolutionär. Der schnalzte mit der Zunge und meinte: „Wir werden uns ja wohl in dieser Nacht nicht im Bettgestell herumbewegen, … ich habe den Jet dabei, steige ein.“

„Ein Flugzeug!“ rief Diego überrascht und besorgt aus, während ein mysteriöser, knallroter Fighter ohne Pilot auf der Straße landete und eine streunende Katze erschreckte.
„Ich warne Dich!“ sagte Marx nach ein paar Minuten der Reise – „wir sind fast da und es wird nicht schön sein, was wir sehen werden. Sei still und lerne etwas.“

L'aeroplano di Marx

Der Fighter landete inmitten eines Ackers. Es war Nacht. Aus einem Schuppen in der Nähe drangen erregte Worte und Motorengeräusche; gegenüber durchschnitt ein langes Viadukt den Horizont. Zwei menschliche Gestalten liefen schnell durch die Dunkelheit. Der Alte ging voraus bis nahe an die Tore der Fabrik und er machte dem Jungen Zeichen, dass er still sein und beobachten solle.

Es gab mehrere Durchgänge zu den TIR, die alle von ein paar Dutzend armselig Gekleideten beobachtet wurden. Der Sprache nach schienen sie mehrheitlich Araber zu sein und sie machten den Eindruck gelassen aber wachsam zu sein. Einige schwenkten rote Fahnen vor den Schnauzen weißer Lastwagen, die unbeweglich auf der Straße standen. Seitlich auf diesen Kolossen waren der Buchstaben zu lesen: „GLS“. Ein Junge schaltete sein Megaphon in Sirenenmodus und ließ es in die Nacht heulen. Man sah auch einige Polizeiwagen.

Seitlich vom Lagertor parkte ein LKW. Plötzlich fuhr er an, schlingerte, bog nach rechts, um am Streikposten, der fast nicht vorhanden war, vorbeizufahren. Die übrigen Streikenden haben sich gerade zurückgezogen und nur ein etwa Fünfzigjähriger mit Gewerkschaftsmütze und bravem Christusgesicht war zurückgeblieben.

Der Gewerkschafter bemerkte den LKW, war alarmiert und rannte mit erhobenen Handflächen schreiend vor ihm her. Der Fahrer achtete nicht auf die Handsignale und fuhr weiter nach vorn. Er war vielleicht davon überzeugt, dass der Facchino7 ausweichen würde; vielleicht war er auch irritiert durch den Streikposten und dass er, der Italiener, der Aufforderung eines Nordafrikaners nachkommen sollte; vielleicht war er auch von seinen Vorgesetzten zur Gewaltanwendung angestachelt. Jedenfalls rammte der Camion den Mann frontal, der darauf heftig auf dem Boden aufschlug. Erst jetzt machte der Fahrer eine Vollbremsung.

Die Genossen des Angefahrenen kamen sofort, schreiend, verzweifelt, wütend herbei gelaufen. Während einige um den am Boden liegenden Körper standen und um Hilfe schrien, wollten andere den todbringenden Fahrer aus dem Wagen zerren und ihn lynchen. Die Polizei schritt ein, um sie davon abzuhalten. Aus der Lagerhalle kam ein leitender Angestellter in weißem Hemd.

Diego war völlig bleich.

„Lass uns abhauen!“ sagte das Gespenst düster: „Der Ägypter war Gewerkschaftsführer, er wird sterben. Er hieß Abd El Salam Achmed El Danf.“  Das rote Flugzeug hob nun wieder ab, unsichtbar für die Augen der Facchini, die um ihren Genossen weinten.

Abd El Salam vive

Marx pilotierte. Diego schaute auf das emilianische Landschaft, die unter ihnen vorbeiraste: die Autostrada del Sole, die Fabriken, den sonderbaren Bahnhof für Schnellzüge, der im Nirgendwo gebaut wurde und dann wieder die überall errichteten horrenden quadratischen Lagerhäuser. Der Geist des alten Mannes drückte den Steuerknüppel nach vorne, so dass das Flugzeug durch die Verringerung der Geschwindigkeit fast am Boden aufprallte.

„Landen wir? … Nein, das reicht für heute Abend, ich will dir nur ein Zelt zeigen. Hier ist es!“

Das mit roten Fahnen geschmückte Zelt war nur wenige Schritte vom Tor eines weiteren Schuppens entfernt. Dieser Schuppen sah sehr modern aus: weiße Metalllamellen horizontal auf allen Seiten, verspiegeltes Glas, fast ein chemisches Analyselabor, stattdessen jedoch wird dort Schweinefleisch verarbeitet. Aus dem Hauptgebäude schien ein weiterer halber Quader hervorzutreten, eine Art niedriger Turm mit einem dreieckigen Sockel, der auf der Fassade ruht. An der Spitze des Turms steht das Schild „CASTELFRIGO“.

Vor dem Zelt, um einen Mülleimer, der als Feuerstelle fungiert, sind einige Arbeiter gruppiert: ein Osteuropäer, ein Afrikaner, zwei Chinesen. Ihre Gesichter scheinen zwar müde aber dennoch gut gelaunt. Der Düsenjäger raste über sie hinweg und setzte seinen Flug fort.

„Seit Monaten befinden sie sich in heftigen Streiks, inklusive dem Hungerstreik, für die Abänderung der Arbeitsverträge in den Scheingenossenschaften, in denen sie arbeiten. Sie fordern die missbräuchlichen Praktiken der Transportgenos-senschaften, die auf dem Fleischsektor Arbeit vermitteln, zu beenden. Die CISL8 organisiert den Streikbruch, die Polizei die Repression und die Gewerkschafts-bürokraten, jede nur erdenkliche Art an Intrigen.  Jetzt frage ich Dich, sind das die „entwurzelten Sklaven“, die sich der Ausbeutung fügen?“

Diego zögerte. „Entwurzelt sind sie…“
„Wenn Sie gerade neue Wurzeln ziehen…?“  entgegnete das Gespenst. „Was für ein Blödsinn!“ entfuhr es ihm.

Basta schiavi

5. Marx und das Gutmenschentum

Karl Marx lebte ebenso wie Friedrich Engels lange Jahre in England. Dort auf der Insel waren sowohl der Rassismus gegen Asiaten und Afrikaner wie auch eine generelle Fremdenfeindlichkeit gegen andere europäische Volksgruppen an der Tagesordnung.

Der Ort aus dem die meisten Migranten stammten war Irland, das damals noch vollständig zum Vereinigten Königreich gehörte. Marx und Engels schrieben einiges zum Thema, zur miserablen Lage der irländischen Arbeiter, die sich als Vorbote ethischer und sozialer Konflikte ankündigte. Es herrschten eklatante Unterschiede zwischen den größtenteils aus sehr armen Gegenden kommenden irländischen Taglöhnern und Bauern und der bereits gut an den industriellen Kapitalismus angepassten englischen Arbeiterklasse. Marx und Engels sparten dabei nicht mit Kritik an der irischen politischen Führung wegen ihres Nationalismus.

Diego merkt an, dass die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus sicherlich keine „Gutmenschen“ waren. Wir müssten ihm recht geben, fänden wir in ihren Schriften Ausführungen wie die folgenden:

Marx immigrazione falsificazione. Il doppio osceno del Moro di Treviri
Aufgepasst, das ist nicht Marx!

»Und jetzt das Wichtigste! In allen Industrie- und Handelszentren Englands gibt es heute eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager unterteilt ist, englische Proletarier und irische Proletarier. Die Engländer hassen den irischen Arbeiter als Konkurrenten, der den Lebensstandard drückt.
Der englische Proletarier fühlt sich vor den Iren als Teil einer unterdrückten Nation, die einer Invasion ausgesetzt ist; die ausländischen Invasoren werden zu Instrumenten der englischen Aristokraten und Kapitalisten, die auf diese Weise ihre Herrschaft festigen. Der englische Arbeiter verteidigt zu Recht seine religiösen, sozialen und nationalen Traditionen gegen die irischen. Er verhält sich grob wie die Indianer von Amerika, die sich gegen die Invasion der Weißen verteidigen wollten, um nicht in den Reservaten zu landen: Wie kann man ihm die Schuld geben?

Dieser Antagonismus wird von der weltweit agierenden Presse, von der „toleranten“ Predigt der Priester, von der linken Satire, die gute Gefühle und Mitleid mit den „armen Iren“ verbreitet: kurzum, er wird mit allen Mitteln, die den herrschenden Klassen und ihren törichten Dienern zur Verfügung stehen, künstlich unterdrückt und auf Distanz gehalten. Das „Gutmenschentum“ ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Es ist das Geheimnis der Machterhaltung durch die Kapitalistenklasse. Und letztere weiß das sehr gut.«

Wo hat Marx diese Zeilen geschrieben? Nirgendwo! Der erste Absatz ist von ihm, aber alles andere, habe ich erfunden. Es ist nicht Marx, sondern Diegos imaginärer Marx. Lesen wir den richtigen Marx in einem Brief an Sigfried Mayer und August Vogt vom 9. April 1870:9

„Und das Wichtigste! Alle industriellen und kommerziellen Zentren Englands besitzen

Vignetta anti-irlandese, 1882
«The King of a-shantee». antiirische Karikatur von1882. Der Titel ist ein Wortspiel  von «König der Hütte» [of a shanty] und «König Ashanti», von einem afrikanischen Stamm. Eine klare rassistische Botschaft überlagert die Verhöhnung der Armut, indem die Iren als „Neger“ und Affen dargestellt werden. Weitere Beispiele.

jetzt eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher den standard of life [Lebensstandard] herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland, befestigt damit deren Herrschaft über sich selbst. Er hegt religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. Er verhält sich ungefähr zu ihm wie die poor white [armen Weißen] zu den niggers in den ehemaligen Sklavenstaaten der amerikanischen Union. Der Irländer pays him back with interest in his own money [zahlt ihm mit gleicher Münze zurück]. Er sieht zugleich in dem englischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland.

Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden Klassen zu Gebot stehenden Mittel. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Er ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztre ist sich dessen völlig bewußt.“

Was haben wir gerade gelesen? Genau das, was es scheint. Marx sah die Realität und wusste sehr wohl, dass es zwischen englischen und irischen Arbeitern kein gutes Blut gab. Wenn er im Manifest schreibt, dass „Arbeiter keine Heimat haben“, beschreibt er die Bedingung, die für sie objektiv Sinn machen würde und zu der sie von der Entwicklung der Weltwirtschaft getrieben werden, aber er weiß natürlich, dass sie immer noch von ethnischen und religiösen Vorurteilen usw. durchdrungen sind. Laut Marx ist dieses typisch populäre Gefühl der Rivalität mit Proletariern anderer Nationalitäten jedoch für die Bosse bequem, und die Bosse selbst schüren es ständig.

Trust di cervelli

Marx argumentiert niemals, dass Kapitalisten das Gutmenschentum und die Toleranz gegenüber Immigranten befürworten; Marx argumentiert, dass die herrschende Klasse mehr oder weniger heimtückisch die Ausbreitung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus betreibt.

Interessanterweise werden auch rassistische, humorvolle Zeitungen unter den gefährlichen Instrumenten in den Händen der herrschenden Klasse erwähnt; heute würde ich sagen: die einwanderungsfeindlichen Cartoonisten wie Marione oder Krancic, rechtsgerichtete Sänger wie Povia (die unter anderem in einem horrenden Lied behaupten, mit Karl Marx übereinzustimmen), die fremdenfeindlichen Gedenkmünzen auf Facebook und so weiter, sind ebenfalls Instrumente dieser Machenschaften.

Im Wesentlichen sagt Marx, dass Arbeiter, die wie Diego denken, wie Streikbrecher sind: Sie werden von der Bourgeoisie zu Schurken erniedrigt, die ihre Klasse spalten. Dies gelte auch für Immigranten, die Einheimische hassen, obwohl er sich diesem Problem naturgemäß weniger widmete.

Aber dieser Brief verrät uns noch viel mehr. Im Allgemeinen ist die Arbeitsmigration keine Verschwörungsangelegenheit der Bourgeoisie: Sie findet spontan und auf Initiative der Migranten selbst statt, denen die Möglichkeit eingeräumt wird, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen und zu beurteilen, was ihnen am ehesten zusagt. Der Kapitalismus schafft automatisch die Bedingungen der wirtschaftlichen Ungleichheit, die die Migrationsströme nähren; die Bourgeoisie nutzt sie a posteriori für ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen, wie sie es bei allem anderen auch tut.

In diesem konkreten Fall ist Marx jedoch überzeugt, dass es eine Art kapitalistische Verschwörung wirklich gibt: Schließlich ist Irland eine innere Kolonie Großbritanniens, das ihre Agrarpolitik festlegt und die Entvölkerung des ländlichen Raums der Insel vorantreibt. Er spricht sogar von einer „erzwungenen Auswanderung“. Dennoch schlägt Marx nicht vor, dass die Kommunisten Maßnahmen zur Verhinderung der Einwanderung ergreifen. Tatsächlich sieht er diese ethnische Mischung als eine Chance für die von ihm gegründete Erste Internationale.

Die internationale Arbeiterorganisation durchkreuzt die Pläne des Kapitals und verwandelt das ins Fortschrittliche, was, wenn es sich selbst überlassen bliebe (d.h. den Kapitalisten überlassen würde), reaktionär wäre. Die Ware Arbeitskraft ist eine besondere Ware, und eine ihrer Besonderheiten ist die Tatsache, dass sie nicht untätig ist. Die Arbeiter sind Menschen mit einem Bewusstsein, das sich entfalten kann. Der gesamte Marxismus ist von dem Bewusstsein durchdrungen, dass der Klassenkampf, d.h. die Unmöglichkeit, Arbeiter als bloß produktive Faktoren zu betrachten, die Welt formt.

Zum Abschluss des erwähnten Briefes erklärt er, wie wichtig es ist, die Sympathie der irischen Arbeiter durch die Verteidigung der Befreiung Irlands vom imperialistischen Joch zu gewinnen, und spricht mit Bewunderung über die Maßnahmen seiner Tochter Jenny, die die breite Öffentlichkeit auf das Thema der irischen Frage aufmerksam gemacht hat. Abschließend hält er es für unerlässlich, dass die Internationale die Zusammenarbeit zwischen irischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmern anderer Nationalitäten verstärkt, und zwar nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den USA, wo nationale Spaltungen die Arbeiterbewegung seit jeher auf besonders schädliche Weise fragmentiert haben.

Ok, das alles scheint uns selbstredend, doch das ist es eben nicht und muss deshalb ausdrücklich betont werden: Nach Ansicht der Gründer der Ersten Internationale war es notwendig, die Arbeiter verschiedener Nationalitäten zu vereinen, und zwar sowohl durch die Schaffung von Verbindungen zwischen den Arbeiterklassen aller Länder, als auch innerhalb jedes Landes zwischen Einheimischen und Einwanderern. Deshalb wurde sie auch International der Arbeiter genannt. Es war notwendig, die Klassenbruderschaft zu fördern.
Sicherlich würden die Fremdenfeinde heutzutage sie als Gutmenschen bezeichnen.

I buonisti della Prima Internazionale
Die „Gutmenschen“ der ersten Internationalen

Hier ist zu lesen, was Marx 1871, im Jahr der Pariser Kommune, vorschlug:

„Es ist notwendig, dass unsere Ziele alle Formen von Aktionen der Arbeiterklasse umfassen. Ihnen einen besonderen Charakter zu verleihen, wäre eine Anpassung an die Bedürfnisse einer einzigen Gruppe – einer einzigen Nation von Arbeitnehmern – gewesen. Aber wie könnten wir alle bitten, sich zu vereinen, um die Ziele einiger weniger zu erreichen?“

Dies antwortet auf einen anderen Schwindel, den man öfters liest, nämlich, dass laut Marx in jeder Nation ein eigener separater Kampf geführt werden müsste. Er bezieht sich auf eine Passage im Kommunistischen Manifest, die aber genau das Gegenteil besagt („Der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie ist am Anfang national, jedoch der Form, nicht dem Inhalt nach.“)…. aber lasst uns das genauer anschauen.

In diesem Interview führt Marx weiter aus:

Streike und spiel nicht den Streikbrecher

«Zum Beispiel ist eine der häufigsten Formen der Emanzipationsbewegung die des Streiks. Früher, als ein Streik in einem Land stattfand, wurde er durch die Einfuhr von Arbeitern aus einem anderen Land besiegt. Die Internationale hat das fast gestoppt. Sie erhält Informationen über den Streik, den sie durchführen soll, und verbreitet Informationen an ihre Mitglieder, die sofort verstehen, dass für sie der Ort des Streiks ein Sperrgebiet sein muss. Die Bosse sind allein gelassen, um mit ihren eigenen Männern umzugehen [….] Mit diesen Mitteln wurde neulich ein Streik der Zigarrenhersteller in Barcelona zu einem siegreichen Ergebnis geführt.»

Wenn Diego diese Texte läse, ohne groß etwas davon zu verstehen, könnte er sich leicht freuen: Tatsächlich sagt Marx hier, dass die Internationale den Import von ausländischen Streikbrechern gestoppt hat. Aber es ist das wie, das zählt: Die Internationale hat den ausländischen Streikbruch gestoppt, indem sie die ausländischen Arbeiter organisiert und sie in den gemeinsamen Kampf einbezogen hat. Es wäre für Internationalisten unvorstellbar gewesen, den Staat, d.h., die Polizei aufzufordern, den Streikbruch durch Errichten von Barrieren an der Grenze zu stoppen. Wenn überhaupt, dann begleitet die Polizei, in welcher Welt auch immer, die Streikbrecher unversehrt durch die Streikposten hindurch.

Das Wichtigste ist jedoch ein anderer Umstand: Wir müssen uns immer an ausländische Arbeitnehmer wenden, die der Chef als billigere Waren verwenden möchte, um die Kosten anderer Waren zu senken Wir müssen sie als Menschen begreifen, die berücksichtigt, überzeugt und einbezogen werden müssen. In Diegos Rhetorik sind Immigranten jedoch Dinge, im besten Fall bedauernswerte „Sklaven“. Es ist die gleiche Rhetorik wie die ihrer Ausbeuter.


Inhalt zweiter Teil

6. Dritte Nacht
7. Lenin No Border
8. Letzte Nacht
9. Die „schöne Linke von einst“ hat dich gleichermaßen reingeritten.
10. Postscript

[wird fortgesetzt]

 




Redaktionelle Anmerkungen/Übersetzung fhecker

1. padrone:// hier:Arbeitgeber [lat. patronus, Besitzer von etwas, Sklaven, Latifundium etc.]

2. Matteo Salvini: siehe wikipedia

3. Lega Nord: Liga Nord für die Unabhängigkeit Padaniens; seperatistische, xenofobische und rassistische Partei in Italien: siehe wikipedia 

4. siehe dazu:  Sovrappopolazione e sottosviluppo: bravo Gian Luca!“

5. Strukturell wird dies in Deutschland mit der Agenda 2010 verdeutlicht, indem Leiharbeit und sog. Arbeitsgelegenheiten (nach SGB II), einen beträchtlichen Teil der Reservearmee rekrutieren (redakt. Anmerkung).

6. siehe dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Prekariat

7. facchino://Gepäckträger (Bahnhof/Hotel) hier: Lastenträger

8. CISL: Die Confederazione italiana sindacati lavoratori (CISL) ist ein italienischer Gewerkschaftsbund. Er entstand 1948, als sich die 1944 als Einheitsgewerkschaft von Kommunisten, Sozialisten und Christdemokraten gegründete CGIL der Kommunistischen Partei Italiens annäherte. Die Christdemokraten trennten sich von der CGIL und gründeten mit der CISL einen eigenen Gewerkschaftsbund.

9. K.Marx, Briefwechsel: siehe auch Jürgen Herres, Marx und Engels über Irland sowie Friedrich Engels, Die Geschichte Irlands 

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