„Überwintern“ im Kälteschutz

Eindrücke zum Überleben auf der Straße
und aus der Pflasterstubenarbeit

DSCI0212.JPGZum Kongress Armut und Gesundheit

Es ist sieben Uhr morgens, gerade angekommen am Hauptbahnhof in Berlin, vertrete ich mir auf dem Vorplatz etwas die Beine und versuche in der kalten Witterung die Müdigkeit einer langen, fast schlaflosen Nachtfahrt im Schnellzug, loszuwerden. In zwei Stunden beginnt der Kongress Armut und Gesundheit in der Technischen Universität am Ernst Reuter Platz. Bis dahin bleibt noch einige Zeit für eigene Erfahrungen in der Hauptstadt, in der Armut deutlich sichtbar und erfahrbar für den Besucher wird. Es dauert keine zwei Minuten vor dem Eingangsportal des Bahnhofs, dass mich ein jüngerer Mann im Rollstuhl auf ein Almosen anspricht. Seine Kleidung ist abgetragen und für die morgendlichen, auf Null tendierenden Temperaturen viel zu leicht. Er friert, sein Gesicht hat eine aschgraue Färbung (Kälte, Mangel, Schmerz) und es gelingt ihm kaum, die Zigarette mit den klammen Fingern zu drehen. Ob er diese Nacht nicht im „Kälteschutz“ geschlafen habe, frage ich ihn. Das verneint er und meint, dass er dann lieber draußen übernachte, denn man läge wie Heringe aufeinander und bekäme die ganze Nacht kein Auge aus Sorge zu, „beklaut zu werden“. Mehr verlegen über die situative Kluft, die sich zwischen ihm und mir auftut und in der spontanen Absicht, das Gespräch nicht weiter fortzusetzen, rate ich ihm, das Innere der Bahnhofshalle aufzusuchen, da es dort ja auf alle Fälle wärmer sei. Er winkt ab und gibt zu verstehen, dass der Sicherheitsdienst Leute wie ihn aus Mehdorns gläserner Kathedrale (Spiegel) vertreiben würde, dann umfasst er die Räder seines Rollstuhls, den er schneller als mein behäbiger Fußgängerschritt in Richtung Spreekanal dirigiert.

In den fünf Minuten, die ich noch draußen verweile, werde ich zum Kauf der Obdachlosenzeitung „Straßenfeger“ überredet, gebe meine Unterschrift auf einer Liste für die Freilassung iranischer Oppositioneller und einige Cents an einen untersetzten kleinen Osteuropäer, der auf seine Situation eindringlich gestikulierend hinweist. Dann fliehe ich, um einige praktische Anschauungen in Sachen Armut reicher, ins Innere des Bahnhofs, nehme die S-Bahn in Richtung Zoo, von wo ich in fünfzehn Minuten das Hauptgebäude der Technischen Universität, den Tagungsort, erreiche. Ich denke, dass in großen Städten das soziale Elend an Bahnhöfen wie an einem Fieberthermometer ablesbar ist. Die Theorie auf der Tagung ist für meinen Geschmack eher zahm, sie beschreibt die Realität aus der Sicht akademischer Weihen und augenfällig ohne die Beteiligung der Leute, in deren Namen sie sich zu rechtfertigen versucht. Zwischen Armut und Gesundheit besteht ein Zusammenhang, man kann ihn statistisch darstellen wie es der Epidemiologe Prof. Richard G. Wilkinson in der Eröffnungsrede des Kongresses tat. Ein aufklärerischer Ansatz, der Einkommensungleichheit mit gesellschaftlichen Phänomenen wie Gewalt, Kriminalität, Adipositas, Drogenmissbrauch, Lebenserwartung, Bildungsstand etc. in Verbindung bringt. Was aber tut man, wenn die Wohnung jetzt fehlt, die Krankheit behandelt werden müsste aber keine Krankenversicherung vorhanden ist, die Lebenserwartung zeitlich prognostizierbar ist aber die Sucht und das Leben auf der Straße ein „gutes Leben“ unmöglich werden lässt: Man tut Pflasterstubenarbeit – ein kleiner sinnvoller Ansatz, der die Leute in ihrer Betroffenheit einbezieht und zu erreichen versucht.

Ein Bahnhof in badischer Provinz

Er liegt acht Stunden Bahnfahrt entfernt vom Tagungsort, ist unansehnlich, im Winter kalt und mit seiner Bahnhofsmission Zuflucht für Leute, die kein Dach über dem Kopf haben. Dort begegnete ich im vergangenen Spätjahr Ezmir K. Der kleine hagere, weißhaarige Mann hat seine Bleibe am Ende des Bahnsteigs eins, vor dem Eingang der Bahnhofsmission eingerichtet. Eine überdachte Sitzbank dient als Schlafstätte und drumherum ist die armselige Habe fein säuberlich angeordnet. Es ginge ihm nicht gut, erfahre ich von einem ehrenamtlichen Mitarbeiter der Mission, er hustet und  habe vermutlich Schmerzen im Bauchbereich und in den Beinen. Auf der Ebene der sprachlichen Kommunikation ist keine Verständigung möglich. Es dauert eine Weile bis er meine Anwesenheit einordnen kann, lässt aber dann artig die Kontrolle der Vitalzeichen zu und den Schwall unverständlicher Worte interpretiere ich als Zeichen, dass er Vertrauen in meine Person gefasst hat. Aus seiner Tasche holt er hoch dosierte Paracetamol-Tabletten. Sie stammen aus dem nahe gelegenen Strasbourg, wo er vermutlich eine Ambulanz aufgesucht hat. Also versuche ich mit wenigen französischen Kenntnissen, ihm verständlich zu machen, dass ich bald mit unserem ehrenamtlichen Arzt wieder vorbeikommen werde. „Je viendrai mercredi prochain avec le docteur!“ sage ich und hoffe, dass der Satz vielleicht eine richtige Antwort auf seinen beunruhigenden Redeschwall darstellt.

Am darauf folgenden Mittwoch fahren Herr Dr. Vogel und ich zu unserem neuen Patienten im kalten Bahnsteigzimmer. Durch die vordem geschaffene Vertrauensbasis, fällt die analoge Kommunikation leichter, die mit Zeichen und dezenten Berührungen eine ärztliche Untersuchung ermöglicht. Ezmir ist stark abgemagert und hätte eigentlich eine stationäre Unterbringung nötig, um wieder etwas zu Kräften zu kommen. Auch ergibt die Untersuchung Symptome einer massiven Herzklappenstörung, was allerdings über einen Facharzt weiter abgeklärt werden müsste. Wir versuchen ihn im demnächst seine Pforten öffnenden Kälteschutz in Offenburg unterzubringen, da vor Ort die notwendige Begleitung seiner angeschlagenen Gesundheit eher organisierbar ist. Doch am Samstag danach ist Ezmir verschwunden. Eine Woche später versuchte ich es nochmals, die Temperaturen sind mittlerweile winterlich geworden und unser Patient hatte mittlerweile seine Bleibe in die Unterführung zu den Bahnsteigen verlegt. Aus einem Haufen schmutziger Decken, die sich auf mehreren Schichten alten Kartons verteilten, schaute ein Knäuel weißer Haare heraus, die zu Ezmir K. gehörten. Ein solches Bild lässt jeden Menschen mit etwas sozialem Gewissen den Atem stocken. Man kennt solche Bilder aus der sogenannten dritten Welt. Aber ist so etwas bei uns möglich? Leider, mittlerweile Ja! Passanten gehen achtungslos vorbei. Haben nicht die meisten von Ihnen irgendwann mal das Gleichnis vom barmherzigen Samariter mitbekommen?  Man schaut weg, da diese Situation nicht in die Choreographie eines reichen kapitalistischen Landes passt; man kann damit nicht umgehen: nun, wenn ich ehrlich bin, setzt sich diese Form von Hilflosigkeit gegenüber dieser Situation bei mir fort. Was tut man, wenn ein halb verfrorener Mensch dringend Hilfe benötigt? Da kann doch nicht nur die medizinische Erstversorgung die ausschließliche Antwort sein!

Dass der Mensch mehr braucht, zeigte sich eine Woche später in einem hellen Krankenzimmer im Klinikum Kehl, in dem Ezmir K. die diagnostizierte Lungenentzündung auskurierte. Als ich ihn dort besuchte, machte er trotz der noch in ihm steckenden schweren Krankheit, einen besseren Eindruck als bei unserem ersten Zusammentreffen. Das verweist auch hier auf einen klaren Zusammenhang zwischen der sozialen Lage und der Gesundheit eines Menschen: auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Als Ezmir K. im Klinikum entlassen wurde, nahm ich ihn mit ins Offenburger St.Ursulaheim. Dort wurde zusätzlich noch, während einer ärztlichen Visite ein hoher Zuckerwert festgestellt, und die Pflasterstube versucht bis heute eine kontinuierliche Behandlung des Diabetes zu gewährleisten. Ezmir dankt es mit viel Redeschwall, Süßigkeit und anderen kleinen Aufmerksamkeiten, in denen er unserem Handeln Anerkennung schenken will. Doch dem vermeintlichen Happy End droht die dunkle Wolke des Lebens auf der Straße. Wenn er in die Pflasterstube zur Behandlung kommt, kommt auch immer eine Frage: „Avril Kehl?“ Wir können sein Leben als bulgarischer Wanderarbeiter, der in Deutschland scheiterte, nicht ändern. Ezmir kam zur falschen Zeit hierher und ich denke, dass er sich schwer tut, nach Bulgarien zurückzukehren. Ich kenne das aus eigener Erfahrung im italienischen Teil meiner Familie: man kehrt nicht zurück, ohne den sozialen Status verbessert zu haben. Eher stirbt man in der Fremde. So bequeme ich mich bei meinem Tun mit einer Strophe vom „armen B.B.“:

„Einige Menschen haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße
Aber die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt. „ (Bertold Brecht)

Einige Menschen haben ein Nachtlager

kaelteschutzWeitere Geschichten könnten von Leuten ohne Obdach, die seit November letzten Jahres jede Nacht den Kälteschutz aufsuchen, erzählt werden. Da ist Adriano, der sich ebenfalls in Kehl, in der seitlichen Arkade von St.Nepomuk, seinen Schlafplatz hergerichtet hat. Wir holten ihn Mitte Dezember bei kräftigen Minusgraden in den Kälteschutz nach Offenburg. Das „Draußen vor der Tür“ ist er derart gewöhnt, dass er es drinnen, so gut es auch sei, nicht lange aushält. Kaum waren die Temperaturen wieder über Null, zog es ihn wieder zurück an den alten Ort im Freien, von wo ihn der Selbsterhaltungstrieb vertrieben hat. Da ist Ivan der Lette von robuster Gesundheit, tagsüber immer draußen, der in der Roten Armee die sowjetischen Zeiten des Afghanistankriegs mitmachte oder Lucian der Rumäne, der zu Hause eine Familie ernähren sollte, was über den Weg nach Deutschland nicht erreichbar ist. Wir haben ihn über die Pflasterstube während seiner stationären Aufnahme im Offenburger Klinikum betreut. Jede Nacht durchschnittlich fünfzehn Männer, die in den Räumlichkeiten einer alten Arbeitersiedlung am Kronenplatz während des Winters untergekommen sind, könnten mit ihren Geschichten zusammen tausendundeine Nacht erzählen. „Der Kälteschutz“, sagt mir der zuständige Sozialarbeiter, „ist für Leute gedacht, die keine anderen Leistungsansprüche geltend machen können und deshalb auch nicht in einer Notunterkunft aufgenommen werden.“ Am 17. April dieses Jahres wird seine Tür verschlossen bleiben. Die Leute ohne Obdach werden nun auch weiterhin obdachlos sein und ihre Schicksale verschwinden ohne Erinnerung in der rasanten Entwicklung einer Zeit, die Armut nicht als ein menschliches Drama, sondern als ein ökonomisches Versagen im Wettbewerb der Arbeitskraft beschreibt.

Kein Trost sind die Worte von Bertold Brecht:

Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!

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