Es ist schon einige Zeit abgesessen in dieser Stadt, an Häuserwänden und den Portalen der Kirchen, wo die Passanten flanieren und mir gelegentlich einen Blick und einige Cents zuwerfen. Wenige Vorübergehende werfen mir auch Worte zu, Worte wie Steinwürfe. Manche sind gut gemeint und treffen gezielt ins Schwarze: „Man kann sein Leben doch nicht so wegwerfen!“
„Das könnte ihnen so passen!“ (George Grosz), dass ich arm im Arm des Bourgeois dessen kümmerlichen Lebensansichten teile. Ich werfe weg – mein Leben – und die entwerfen alles für mich von der Wiege bis zur Bahre: den tödlichen Fall in die Armut. Da mache ich nicht mit, flüchte. Sozusagen bin ich ein Flüchtling, ein Fliehling, der sich ängstlich den Tollheiten der Massenmoderne (könnte präziser kommen, hab ich aber verdrängt, vergessen, amnesiert) entziehen will.
Ich lese manchmal ein Buch, während der Sitzung (meine, das Absitzen an Häuserwänden und Kirchenportalen, damit mir Passanten gelegentlich einen Blick und einige Cents zuwerfen). Die Orte und die Zeit der Sitzung sind mit Bedacht gewählt. Abseits und unzeits der Menschenströme opfert man Zeit und Geld. Dies berücksichtigt, sind die Chancen, das Ziel zu erreichen, kalkulierbar. Bücherlesen macht taktisch wie strategisch einen Sinn. Es signalisiert dem Strom peaceableness, Integrationsbereitschaft und Kommunikationsfähigkeit. Das erleichtert ebenfalls den neugierigen Blicken schamlos zuzuschlagen.
Vigilia di Natale verbringe ich mit Drewermann in der Hand: Kapitalismus & Christentum. Man fängt eben immer wieder von vorne an. Erstaunlich wie der sich weiterentwickelt hat und bei den Quellen einiger Intellektueller Anleihe macht, die in ihrer Zeit um einiges klarer in die Welt schauten als wir das von heutigen Intellektuellen gewohnt sind. Die Kälte lässt aber nur ein Blättern durch die Seiten zu. Eine zwischen den Wochenmarktbuden umher irrende, gute Mutter zieht ihren Aufwuchs hinter sich her. „Mama kuck, der arme Hund!“ Von neben an, dem Kleidergeschäft, schwingen noch dezent Weihnachtsmelodien: „Mädchen hört und Bübchen, macht mir auf das Stübchen…“ Ein sozialabgebauter Dicker kommentiert: „Solchen Leuten gehört das Tier weggenommen… „
Ich saß nicht immer so, zusammen gekauert an den Häuserwänden, zwischen den Buden des Wochenmarkts, an den Kirchenportalen, nahe den vorbei strömenden Kirchgängern mit ihren sakral aufgelegten Gesichtern. „Als Gregor Samsa“, schreibt Kafka,“eines morgens aus unruhigen Träumten erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ In Analogie des Zitats wäre zu sagen, dass ich nach langen schweren Träumen als Paria erwachte. Nächtelang rannte ich irgendwelche Deiche am Meer entlang und erträumte und spürte, dass mir die Urgewalt des Wassers den Weg versperrte. Immer dann, wenn ich keinen Ausweg mehr wusste, wachte ich auf. Es heißt, ein Mann wird, was er träumt. Habe ich schlecht geträumt? Oder bin ich vielleicht gar kein Mann?
Der Begriff Paria wird im Deutschen im Sinne von Ausgestoßener bzw. Außenseiter verwendet. Das Wort leitet sich vom tamilischen Namen paraiyar (Tamil பறையர் paṟaiyar) für eine untere Kastengruppe in den südindischen Bundesstaaten Tamil Nadu und Kerala her. (Wikiwand)
Als der Pfarrer aus dem Portal tritt und mich zur Messfeier einlädt, werde ich hellwach. Ich kann es mir nicht leisten, die Einladung auszuschlagen, folge ihm in die seitlichen Reihen des Chorgestühls und bekomme dort einen Ehrenplatz: „Schließlich wurde unser Herr arm geboren!“ Und ich ergänze: „Und als Rebell hingerichtet!“ Pfarrer mögen es nicht, wenn ihr metaphysisches unVermögen, die Welt zu abstrahieren, von einfachen Leuten wie mir, in Bilder der sogenannten Realität zurück übersetzt werden. In Time to kill vergewaltigt der italienische Tenente Silvestri ein äthiopisches Mädchen. „Hier heißen alle Maria,“ sagt er später im Fort, seine Geschichte erzählend. Die Geschichte von Maria wird in der Legende von Dario Fo anders erzählt:
Mi s`eri ammo giuvina (Canzone di Dario Fo)
Mi s`eri ammo` giuvina,
speciavi un bel giuvin
che mi parlasse parole d`amore
e mi facesse venire un rossore
e tremare stringendomi a sèOhi Maria, ohi Maria,
amami a me
amami a me
Dario Fo besingt die Sehnsucht der jungen Maria nach Worten der Liebe, die ihr doch ein schöner junger Mann sprechen möge. Nun es kommt, wie`s kommen muss. denn in der zweiten Strophe der Canzone, Maria befindet sich im Garten, taucht ein Bel Giuvin auf, der sich als Erzengel Gabriel entpuppt und zu ihr spricht: „Sarai la sposa di quel bianco pivone divin“. Würde ich twittern, hieße das etwa so: Das Mysterium Maria und ihr Kind, erklärt sich durch eine weiße göttliche Taube.
Das weihnachtliche Ritual bleibt der alte Muff in den Gehirnen, die scheinbar allmächtige christliche Theologie: Luther mit den Fürsten gegen die Bauern. Oh du fröhliche, oh du selige…etc. Oder die teuflische Päpsterei mit der purpurnen Mafia. Tu scendi dalle stelle, o re del cielo… Ich würde gerne mit dem Pfarrer über das Mysterium der Fleischwerdung Gottes diskutieren – nach dem Ritual bei gedecktem Tisch im Warmen und bei hellem Kerzenschein. Ich würde ihm sagen, dass in diese kalte Erde ihre Weihnachtsgeschichte nicht passt. Ich würde ihm sagen, dass ich glaube, dass das Kind geboren wurde, aber die Geschichte der Armut nicht in ihren präpotenten Kirchen erzählt werden kann. Denn sie wird heute so erzählt:
Ninna nanna pe ‘sta criatura che va pe ‘mmare dint’a notte scura / duorme ca si t’adduorme presto/nun vene la tempesta/Duorme duorme ca ‘sta carretta/si duorme po’ naviga’ cchiù in fretta/naviga naviga tutto o mare c’avimmo attraversare/ Naviga naviga e nun se stanca/ si ‘sta criatura vene da Sri Lanka/ naviga naviga e nun se sperde si vene ‘a Capoverde / Duorme e sonna tutte e giardine ‘e chesta terra ca s’avvicina/ chesta terra ca t’appartene si ce sta chi te vo’ bene/Ninna nanna pecché stu mundo chillu dio che l’ha criato l’ha fatto tundo/ e ce sta posto pe’ tutte quante si l’ha fatto accussì grande
R.Greco