Autor: G.Melle
In Zeiten der Staatskonkurse und des Ausverkaufs von Nationalvermögen zum Schleuderpreis, wird das Näherrücken zum Muss. Will man dem Euphemismus der Occupy-Bewegung “We are the 99 percent” einigermaßen gerecht werden, sind es gerade die Ärmsten in den westlichen Industriegesellschaften, das “Strandgut” der kapitalistischen Arbeitsgesellschaften, für das ein Näherrücken zur Überlebensfrage wird.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Idee, eine Landesarmutskonferenz zu gründen, in den Reihen der aktiven Wohnungslosen entstand und favorisiert wird.
Verwunderlich ist eher das sozial-politische Engagement in einem äußerst prekären Segment der Gesellschaft, welches doch Resignation und Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen vermuten lässt. Aber die politische Diskussion hat längst schon Einzug in Wärmestuben und Einrichtungen der Wohnungslosehilfe gehalten. Vor drei Wochen wurde in Heidelberg, in der Wärmestube des SKM, eine Betroffeneninitiative der Wohnungslosen gegründet. Von den ca. 50 Teilnehmer/Innen haben sich sieben für eine beständige Mitarbeit bereit erklärt – ein gutes prozentuales, quantitatives Ergebnis. Bei der Gelegenheit trug ein älterer Teilnehmer folgendes Gedicht bei sich:
Das Nachtlager
Ich höre, daß in New York
An der Ecke der 26. Straße und des Broadway
Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht
Und den Obdachlosen, die sich ansammeln
Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft.Die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt
Aber einige Männer haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße.Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest, Mensch.
Einige Menschen haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße
Aber die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.(Bertolt Brecht)
Ein Nachtlager allein reicht nicht oder die Karawane 2010
Wer ist dieser Unbekannte, der am Brodway vorbeigehende Passanten um ein Nachtlager für die Obdachlosen bittet? Ralph, der das Gedicht bei sich trug meinte, dass es sich um eine brecht’sche Erfindung handele, damit das kurzfristig Notwendige mit dem längerfristig Notwendigen, der Abschaffung des Zeitalters der Ausbeutung, versöhnt wird. Ralph ist ein etwas untersetzter, dickleibiger wohnungs- und erwerbsloser Arbeiter, kurz vor der Altersrente. Er war Kraftfahrer in einem Kombinat zu DDR-Zeiten und “machte gleich während der Wende rüber” ins neue Arbeiterparadies. Er erhielt die erste Zeit Nachhilfe für den kapitalistischen Alltag (“Ihr blöden Ossis kapiert überhaupt nichts!”), begriff den Unterschied zwischen legalem und illegalem Betrug nicht und landete für sechs Monate im Knast. Als er rauskam war die Wohnung und der größte Teil seiner persönlichen Habe weg. Im Knast machte sich Ralph Gedanken: “Im Osten machte ich Grundschule, im Westknast Universität!”). Ja, er sagte Universität und er meinte das so: der Knast war für ihn Zeit des Studiums. Es war eine Zeit, in der er sich an schon einmal Gelerntes erinnerte, es auffrischte und mit seiner Situation verglich. Was dabei herausgekommen ist, wollte ich wissen. “Im Knast ist es wie draußen – es entscheiden immer andere über dich!” Die Anderen? Das sind die Gelbkacker, die Monster der Ignoranz und des Konformismus, die selbstverliebten politischen Höflinge und Krämerseelen, die farblosen Lakaien der herrschenden Klasse.
Ralph beteiligte sich vor zwei Jahren an dem großen Ereignis. “Was für ein Leben!” Zehn Tage zog er mit der Armutskarawane durchs Dreiländereck. In Mulhouse lernte er Jean Claude kennen. “Überleg doch mal,” sagte der, “was du von deinem Leben gehabt hast… etwas Aufbruch- und Abbruchstimmung im staatlich verordneten Sozialismus, … etwas Keynes im Zeitalter der schwindenden Kaufkraft, dann Arbeit weg, im Dschungel der Arbeitslosigkeit, und dann die Wohnung weg.” Was tun? Vielleicht ein neues Manifest schreiben? Oder sich wie ein Freund von Nanni Moretti auf die äolischen Inseln zurückziehen, um sich nur noch mit Ulysses von Joyce zu beschäftigen? Wie Gandhi in den Hungerstreik treten? Sie konnten sich nicht einigen.
Was tun? Das war abends im Foyer des Centre sportif von Mulhouse bei den Aktivisten gegen Wohnungslosigkeit ebenfalls lange erörtertes Thema . An diesem Abend, am 21. Mai 2010, wurde u.a. auch der Vorschlag, eine Landesarmutskonferenz zu gründen, zur Diskussion gebracht. Mulhouse war die vorletzte von zehn Stationen der Armutskarawane und man war sich einig, dass nach diesen Erfahrungen mit Armut im Dreiländereck des Südwestens, weitere Anstrengungen im Kampf gegen extreme Armut folgen müssen. Noch waren es vage Vorstellungen, was darunter zu verstehen sei. Es stand zunächst erst mal ein Wort im Raum. “Wichtig ist, dass wir uns darauf einigen, dass es weitergeht!” … “Wir müssen uns mehr vernetzen.” … Was sind unsere Ziele, Forderungen, Visionen?” … Wie halten wir’s mit den Parteien, den Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen?” Die Diskussion erbrachte ein Puzzle an Ideen und Problemstellungen, die es die nächsten Monate für die Wohnungslosen zu klären galt.
Landesarmutskonferenz – was ist das?
Ralph treffe ich ein Jahr später in Baden-Baden wieder. Der Gemeindesaal St. Dionys war bis auf den letzten Platz von Aktiven der Wohnungslosen besetzt. Eingeladen hat die Landesarbeitsgemeinschaft wohnungsloser Menschen, um sich über die Gründung einer Armutskonferenz zu verständigen. Ralph meinte damals, dass die Landesarmutskonferenz etwas sein muss, was die Betroffenen steuern: “… etwas Gemeinsames von unten, das die Armutspolitik zum Tanzen bringen kann… Arbeitslose, Wohnungslose, Migranten, Alleinerziehende, die armen Alten und Working Poors gemeinsam gegen das neoliberale Gesindel.” Er könne sich schon vorstellen, sich da einzubringen, “Hauptsache, es bleibt nicht nur bei der Quatscherei!”. Ralph ist immer noch wohnungslos und pendelt zwischen Straße, Freunden und Wärmestube. Es gab Nächte, in denen er auch im Winter “draußen Platte machte”. “Die Gesellschaft macht sich nur einen Kopf, wenn mal wieder jemand erfriert… Aber ändern tut sich dann doch nichts!” Deshalb ist die Umsetzung einer Idee Landesarmutskonferenz durchaus realistisch.
Die Diskussion der Betroffenen, die sich bis in den Spätnachmittag hinzieht, bot für das, was jetzt noch zu tun war, eine klar umrissene Linie. Die Landesarmutskonferenz versteht sich sich als ein Zusammenschluss von Betroffenen, Initiativen und Organisationen aus den Armutsbereichen der Gesellschaft. Eine Vernetzung mit engagierten Hauptberuflichen der Sozialarbeit, den “aufgeschlossenen” Teilen ihrer Verbände und Gewerkschaften, wie auch mit Sozialwissenschaftlern an den Hochschulen ist wünschenswert. Es geht um die Verständigung darüber, wie sich Armut im reichen Musterländle darstellt und es geht darum, unter den verschiedenen Beteiligten ein gemeinsames Verständnis des politischen Widerstandes sozialer Armutsbewegung zu entwickeln.
Inhaltlich sollte sich die Landesarbeitsgemeinschaft wohnungsloser Menschen für folgende sieben Themen stark machen:
1. Visionen: Welche Wege der gesellschaftlichen Veränderung und Entwicklung sind wünschenswert.
2. Extreme Armut: Was ist im Land darunter zu verstehen und wie könnte ein Engagement der Landesarmutskonferenz aussehen (Kampagnen, Aktionen).
3. Gesellschaftliche Teilhabe statt Ausgrenzung: Strategien der Armutsbekämpfung.
4. Menschenwürde: Wie kann sie im öffentlichen Raum gesichert werden.
5. Einbringen von Praxisbeispielen zu verschiedenen Themen u. Inhalten.
(z. Bsp. Hartz IV)6. Verteilungsdebatte (Gerecht geht anders!)
7. Grundeinkommensdebatte.
Stand März 2012
Besonders das letzte Drittel und der Beginn des neuen Jahres waren zeitlich nochmals von der inhaltlichen und organisatorischen Ausrichtung der Gründungsversammlung bestimmt. Am Samstag, den 10. März 2012 ist es soweit und die Aktiven sehen dem Termin zuversichtlich entgegen. Es haben sich nicht wenige Betroffeneninitiativen, Einzelpersonen aus Wissenschaft und sozialpädagogischen Bereichen, Gewerkschaftsvertreter (auch aus den Kirchen) angemeldet.