An der italienischen Krise ist die Arbeiterklasse schuld
Autor: John Weeks
Ökonom u. emeritierter Professor an der Londoner Universität.
Breaking News: The working class caused the Italian Crisis
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Wann war es das letzte Mal, dass Sie sich gefragt haben, ob die ökonomischen Probleme der Profitgier der Kapitalisten geschuldet sind? Bei mir geschah dies als ich einen Artikel im Guardian am 5. November von Phillip Inman las und ich entdeckte, dass die italienische Schuldenkrise darauf zurückzuführen ist, dass “sich die italienischen Arbeiter die letzten zehn Jahre mehr bezahlten als ihre deutschen Kollegen und dies bei weniger Arbeit und weniger Produktivität…” (…Italian workers have paid themselves more than their German equivalents over the past 10 years for doing less work, less productively…)
Da wäre zunächst festzustellen, dass Mr. Inman in Italien eine tatsächlich außerordentliche Entdeckung gemacht hat, etwas einzigartiges in der Welt des Kapitalismus: in den vergangenen zehn Jahren haben die Arbeiter “sich selbst bezahlt”, anstatt, wie in anderen Ländern auch, von ihren Arbeitgebern bezahlt zu werden. Abgesehen von dieser revolutionären Modalität des Arbeitsentgelts, ist die Botschaft klar.
Wir haben eigentlich immer angenommen, dass den ökonomischen Problemen Italiens folgende Ursachen zugrunde liegen:
1) ein verantwortungsloser Premierminister, der wegen krimineller Machenschaften unter Anklage steht;
2) ein korruptes Fiskalsystem, in dem die Reichen Steuern bezahlen, wie es ihnen genehm ist;
3) ein politisches System, das sich dank der Macht von Neofaschisten, Vermögenden, kriminellen Banden (man weiß, wer Sizilien kontrolliert) entschieden rechts positioniert;
4) Banken, in denen Geldwäsche tägliche Praxis ist;
5) die ewige Schwäche der Linken, mit all dem, was daraus folgt.
Nun, wenn wir so gedacht haben, liegen wir völlig falsch. Italien befindet sich wegen einer habgierigen, faulen und überbezahlten Arbeiterklasse in der Krise. Erschwerend wirkt, dass die Löhne, die sie sich selbst auszahlen, sich schlecht mit den Möglichkeiten des Landes vertragen (und Italiens Verbleib in der EU). Angesichts solch unverantwortlicher Verhaltensweise der Arbeiterklasse, müsste man erwarten, dass die Statistik für die letzten zehn Jahre ein schnelleres und höheres Anwachsen der Gehälter ausweisen im Vergleich mit Deutschland, dem Reich der harten und disziplinierten Arbeit.
Dabei könnte man über die Auskunft der beigefügten Tabelle enttäuscht werden. 1997 lagen die Kosten pro Arbeitseinheit in Italien bei 80% der deutschen Arbeitskosten. Und zehn Jahre später waren sie –nun- bei 8o%. In den späten 1990gern und den ersten Jahren im neuen Jahrtausend sank das Verhältnis, um sich dann etwas über 80% einzupendeln.
Aber natürlich, wenn die Italiener weniger verdienen, liegt es daran, dass sie weniger arbeiten. Aber auch hier enttäuscht die Statistik erneut. Eurostat (die Datenbank der EU) zeigt für die Jahre 2009-2011, dass die faulen Italiener in Vollarbeitszeit 38 Stunden die Woche arbeiteten, gegenüber 35,7 Stunden bei den arbeitssamen Deutschen.
Bei dieser Darstellung fragt sich einer, wie es möglich sein kann, dass ein Journalist einer angesehenen Zeitung, die mittelinks steht, sich einer derart offensichtlich falschen Argumentation über italienische Arbeiter bedient. Es kann etwas mit dem Gewicht nationaler Stereotypen zusammenhängen: die Nordeuropäer sind diszipliniert und fleißig, während es diesen mediterranen Typen an Arbeitsmoral mangelt, weil sie während der Arbeitszeit lieber in der Bar herumhocken. Etwas ähnliches wurde im vergangen Jahr von den griechischen Arbeitern gesagt, die jedoch wie ihre italienischen Kollegen, mehr arbeiten und schlechter bezahlt werden als ihre Kollegen in Deutschland (immer noch Datenbank Eurostat).
In Wirklichkeit aber ist es nicht nur eine Frage der Vorurteile. Die Probleme des Euro, eingeschlossen die italienische Schuldenkrise, sind direkte Konsequenz der internationalen Finanzkrise von 2007-2008. Diese Krise ist das Resultat eines rücksichtslosen Verhaltens privater Finanzinstitutionen in den Vereinigten Staaten, nach über drei Jahrzehnten unverantwortlicher Deregulierung durch Regierungen.der Republikaner und Demokraten. Mit anderen Worten resultiert die italienische Verschuldung aus dem Verhalten der Banken und dem Versagen der europäischen politischen Dirigenten, ihre Arbeit zu machen und dieses Verhalten zu kontrollieren. Die einzige Medizin wäre eine strikte Kontrolle des privaten Finanzsektors und eine Disziplinierung ihrer Macht.
Um dieser einleuchtenden Lösung zu entgehen, bevorzugen die Banken und ihre Sympathisanten in den Regierungen, sowie die Medien und gewisse akademische Kreise, eine alternative Darstellung: die Probleme, mit denen wir uns herumschlagen müssen, sind auf die verantwortungslosen und faulen Arbeiter zurückzuführen, die zu viel verdienen und zu wenig arbeiten. Deshalb Kürzung der Gehälter und Zulagen, um mit dem “Ersparten” den Bänkern die Zinsen zu bezahlen.
Das ist eine potentiell überzeugende Darstellung, welche die Möglichkeit impliziert, uns die Nicht-Reichen, also die 99%, wie die Wall Street Besetzer sagen, zu überzeugen und jede Art der Cross-Border Solidarität unter den Betroffenen zu isolieren: denn die Quelle Schuldenkrise ist das griechische Volk, nicht die Banken. Diese Position ist vor allem in Deutschland sehr stark, wo die Regierung versucht, die Arbeiter- und Mittelklasse stillzuhalten, die ihr schwer erarbeitetes Einkommen nicht wegen der faulen Griechen (Italiener, Spanier, Iren, etc.) verlieren wollen.
Eine weniger vulgäre aber weitaus schädlichere Version dieser Ideologie kann man in einem Artikel der New York Times (8 November, "In Turmoil, Greece and Italy Deepen Euro Crisis") lesen: “In Italien und Griechenland wird nicht nur die Ökonomie, sondern die Fähigkeit der demokratischen Regierungen zu unpopulären Maßnahmen auf die Probe gestellt.” Genau das Gegenteil ist der Fall: Für eine demokratische Regierung sind populäre Maßnahmen schwierig, wie es gerade gezeigt wurde bei dem schnellen Rückzug des Referendums in Griechenland, oder dem Verschwinden des Vorschlags einer Finanztransaktionssteuer in Italien. Der Punkt ist, dass die Macht der Finanzinteressen bewirkt, radikale Sparmaßnahmen in Betracht zu zu ziehen, die nicht zum eigenen Schaden sind.
Der Sparkurs und die sogenannte Reform des Arbeitsmarktes kommt von der ebenso falschen Ideologie, welche die Opfer beleidigt und die Täter auszeichnet. Wir, die 99% der Europäer, müssen die wahre Darstellung verbreiten, welche das Bankensystem trifft und ihm gegenüber die Solidarität unter den Klassen fördert. Eine wahre Darstellung ist in der Lage, eine adäquate Lösung der Schuldenproblematik für alle europäischen Länder vorzuschlagen, welche keine Rettungsschirme beansprucht (bailouts). Die Lösung liegt in einer strikten Kontrolle der Banken und Finanzen, dazu eventuell ein öffentliches Notfallsystem, in Antizipation einer fundamentalen Reform des gesamten Finanzsystems. Eine schlechte amerikanische und europäische Politik haben das Finanzsystem “zerstört”, die 99% müssen die Kraft finden, es zu reformieren.
Um die Forderung der New York Times neu zu stellen, bliebe die Frage: Sind die demokratischen Regierungen bereit Politiken zu implementieren, welche statt der 1% die 99% begünstigen.
übersetzt von Günter Melle