Appell der Philosophin Agnes Heller
Nachdem sie in den 60iger Jahren Europa begeistert hat, warnt sie heute vor den Gefahren einer, durch die ungarisch neofaschistische Regierung vorgetäuschten Toleranz. Als Überlebende von Auschwitz hat sie die Budapester Schule mitgegründet.
Autor: Arturo Zilli – Journalist, seit 2006 Mitarbeiter in der Öffentlichkeitsarbeit Caritas Bolzano-Bressanone (Bozen-Brixen) und Mitarbeiter bei der Zeitschrift Famiglia Cristiana.
Übersetzung: Günter Melle
Quelle: domani
Agnes Heller ist eine der großen Stimmen der modernen Philosophie. In den Geschichtsbüchern des zeitgenössischen Denkens steht ihr Name an der Seite der Klassiker. Viele erinnern sich an ihr Buch “Die Theorie der Bedürfnisse bei Marx”, das in Italien zu großen Diskussionen in den 60iger Jahren führte. Besonders aber bleibt sie mit dem Namen György Lukacs eng verbunden (sie war dessen Schülerin und Assistentin), dem ungarischen Philosophen und Dirigenten der Kommunistischen Partei, der den Marxismus von seinen dogmatischen Ketten zu befreien versuchte. Agnes Heller wird sich vom 1. bis 3. November in Italien aufhalten. Sie wurde vom Friedenszentrum der Gemeinde Bozen eingeladen, um ihr neuestes Buch “Die Schönheit der guten Person” (Edition Diabasis) vorzustellen.
Sie wurde 1929 in Budapest in einer jüdischen Familie geboren. Mit 14 Jahren geriet sie in die Vernichtungsmaschine der Nazis (ihr Vater starb in Auschwitz). Sie überlebte das Inferno der Konzentrationslager und immatrikulierte an der philosophischen Fakultät in Budapest, wo sie die Vorlesung von Lukacs besuchte. Zusammen mit anderen Philosophen gründete sie die “Budapester Schule” und wurde in kurzer Zeit einer ihrer führenden Köpfe. Aber 1959 wurden die Theorien von Lukacs durch das Regime verurteilt und Agnes Heller war gezwungen ins Exil zu gehen, zuerst nach Australien, dann nach Amerika. Ihr Land betritt sie erst wieder nach dem Mauerfall von Berlin. Ihre Anwesenheit wird jedoch von der regierenden Rechten als unbequem angesehen. Agnes Heller gehört zu den Initiatoren, die in den letzten Tagen hunderttausend Menschen auf die Straße brachten. Sie protestierten gegen die Einschränkung der Pressefreiheit und gegen den Versuch die “Intelligenzija aus dem Land zu schaffen”, wie es sich mit den wichtigen Amtsenthebungen des Orchesterleiters der Oper Budapest, Adam Fischer und dem Leiter des Balletts andeutet. “Wir erleben einen Kulturkampf, einen Krieg gegen die Intellektuellen des Landes”, sagt Agnes Heller.
Fragen an Agnes Heller
Was meinen Sie Agnes Heller, können sich die repressiven Politiken ihrer Regierung auf Europa ausdehnen?
Die Gefahr besteht. Der Präsident Ungarns, Viktor Orban, verletzt einige fundamentale Rechte, darunter zuallererst das Recht auf Pressefreiheit. Er bedient sich dabei einer aggressiven Propaganda, die darauf abzielt, die Journalisten einzuschüchtern, damit sie unkritisch über das schreiben, was der Macht am Herzen liegt. Das ist nicht nur ein italienisches Problem. Auch in Italien wird ähnliches versucht. Es ist wichtig, dass sich diese Viren nicht verbreiten. Und dazu bedarf es einer großen und lebhaften Aufmerksamkeit.
Noch vorgestern gingen 70tausend Menschen in Budapest gegen die Zensur auf die Straße. Welchen Einfluss haben derartige Ereignisse auf die Regierung?
Die Demonstration hatte keinen direkten Einfluss auf die Regierung, sie ist aber sicherlich positiv zu werten, weil sie eine neue wachsende Kraft darstellt, die der Opposition hilft, Druck gegen die repressiven Politiken dieser Regierung zu machen. Es gibt Verbindungen zur Bewegung der “Indignados”, welche die vergangenen Tage in der ganzen Welt auf die Straße ging, um Nein zu einer Politik zu sagen, die den einfachen Bürgern immer mehr Bürden auflastet.
In Ungarn hat die Bewegung der Indignados noch nicht Fuß gefasst. Diese Bewegung der jungen Leute ist vor allem gegen die Banken gerichtet. Der Populismus unseres Präsidenten versucht auch von dieser Unzufriedenheit zu profitieren. Er gibt sich als antikapitalistischer Paladin, indem er sagt, dass er niemals die Schilden der Banken bezahlen wird. Bis jetzt haben die Demonstrationen gegen das Knebelungsgesetz der Presse noch keinen Anschluss an die Bewegung der Indignados gefunden.
Welche Relationen bestehen zwischen Ihrer Theorie der Bedürfnisse und der internationalen Finanzkrise?
Die Finanzkrise ist eine Störung, die einen Anfang hatte und ein Ende haben wird. Man kann nicht ewig in Krisen leben. Man spricht ja von einer Spekulationsblase. Ich weiß nicht, welche Auswirkungen sie haben wird, aber früher oder später wird die Krise zu Ende sein. Die Bedürfnisse hingegen gibt es immer. Es gibt manipulierte, induzierte Bedürfnisse und es gibt radikale Bedürfnisse, die das Leben jedes Individuums begleiten. Die Reflektion über Bedürfnisse ist immer aktuell, auch wenn sich die Bedingungen verändert haben seit ich das Buch in Bezug auf die Gedanken von Marx schrieb. Die großen Werke gibt es nicht mehr. Wir befinden uns im Anhang an die Moderne, die wir als Postmoderne bezeichnen können. Aber die Bedürfnisse bleiben die gleichen.
Inwiefern hat Ihr Jüdischsein auf die Ausarbeitung Ihrer Theorie gewirkt?
Mehr als die Herkunft haben die Erfahrungen gewirkt. Meine Familie war laizistisch. Mein Vater ist im Inferno von Auschwitz gestorben. Wir waren Opfer der Verfolgungen. Mit 14 Jahren bin ich in den Armen des Todes gelandet und dachte Tag und Nacht nur daran, wann meine Stunde kommen würde. Dann kam das Sowjetsystem und auch hier wurde ich unterdrückt, sodass ich mein Land verließ und nach Australien ins Exil ging. Diese beiden grundlegenden Erfahrungen haben mein Leben und mein Werk beeinflusst.