geschrieben von Roberto Greco
Du erinnerst Dich? Wo war ich stehengeblieben? Eine Fahrt im Regio am 20. Juli, zehn Jahre später. Die Erinnerung zieht zur Fahrt nach Genua 2001, während des G8-Gipfels. Grenzstation Chiasso: zwei mitreisenden schwedischen Studenten wird von einem Tenente Carabinieri die Einreise verweigert, darunter Nora.
Mit dem Tenente war nicht zu verhandeln. Schließlich war auch das Aussehen von Nora Geschmackssache und sicherlich nicht angetan, die Kommunikation mit ihm zu erleichtern. Sie steckte in weiten Jeans und trug über einem roten T-Shirt eine viel zu große blaue Arbeitsjacke. Sie schien außerdem, mit einer Cuba Cap auf ihrem hellbraunen Haarschopf, den späten sechziger Jahren zu entstammen. Nora sah abenteuerlich schön aus. Ich versprach ihr, den Versuch zu machen, mit dem Capitano des Tenente sprechen zu können. “Und dann?” “Dann werden wir weitersehen…”
Tagebucheintrag 21.7.2001 |
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Es war eine gespenstische Szene. Es war drei Uhr nachts auf einer durch Scheinwerfer von allen Seiten beleuchteten Freilichtbühne, eingetaucht in das Dunkel der Berge. Es war eine der Aufführungen auf der Bühne des Lebens, die man nicht vergisst. Aktionstheater, dessen Protagonisten nicht künstlich zur moralischen Läuterung des Publikums geschaffen wurden. Es war episches Theater pur, das weder Drehbuch noch Regisseur benötigte und dessen Vorhang sich nie schließen wird. Hier wurden weder Einnahmen noch Anzahl des Publikums gezählt und wer etwas romantische Würze liebte, brauchte dazu nur den Sternenhimmel, der nun schon begann Laurentiustränen zu weinen.
Nora war die schöne Hauptdarstellerin, die uns dirigierte, den Verlauf der Handlung bestimmte und ihre eigene Erossphäre schuf. Aufregung und Wut über die uniformierten Wegelagerer war mit leichter Röte in ihr Gesicht geschrieben. Als sie zu singen begann, sangen und summten einige von uns mit:
- ”När jag steg upp ur min säng en morgon
- O bella ciao bella ciao bella ciao ciao ciao
- När jag steg upp ur min säng en morgon
- Stod fienden invid min dörr”
Das war sie nun, die wunderbare Reisefreiheit des Westens, die keinen Pfifferling wert ist, wenn sie nicht in die Krämerei der herrschenden Staatsräson passt. Ihre Reisefreiheit rollte auf vier Rädern: Mann, Frau, Kind und Kegel zügig auf der Hauptspur hundert Meter entfernt an uns vorbei. Der Capitano war wenig beeindruckt von unserer Aufführung, der Tenente und seine Kohorte kauten gelangweilt und ostentativ auf ihrer Cicca, was sie noch unsympathischer machte und den Eindruck bestärkte, dass sie so etwas wie herangezüchtete Kampfmaschinen darstellten – quasi als eine evolutive Konsequenz des Konsumenten, der vor lauter dein und mein (wobei das dein immer größer erscheint als das mein) beständig daran erinnert werden muss: “Vorsicht bissiger Hund!”
Der Capitano herrschte mich an, zu übersetzen, “che questi bastardi smettano la commedia!” Er drohte uns alle einzusperren und den Bus zu requirieren, sollten wir nicht binnen geraumer Zeit den Platz geräumt haben. Noras Aktivismus provozierte, nachdem uns die Drohung blanker Gewalt derart plastisch in ihrer Konsequenz erreichte, die fast einhellige Empfehlung der Reisegruppe, so schnell als möglich den Schauplatz zu räumen. Es war einer der Momente, denen ich öfters in langen Jahren sozialer Kämpfe begegnete. Leute kamen zusammen, liefen sich auf den unterschiedlichsten Plätzen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen über den Weg, verloren sich wieder zwischen bread and roses und moonlight shadow. In den seltensten Fällen gibt es eine weitere Begegnung im Leben und wenn, dann nur um festzustellen, dass das ursprüngliche Band der Gemeinsamkeit eines Augenblicks zerrissen wurde und die Emotionen, das Denken und Träumen alleine bleiben muss, um sich draußen nicht dem Spott preiszugeben.
“Addio” Nora. Wir versprachen ihr und ihrem Kommilitonen, sie auf der Rückfahrt wieder in Chiasso abzuholen.