Pier Paolo Pasolini – Prophezeiung

Toni Servillo liest Lyrik eines frühen Theoretikers der antikapitalistischen Bewegung: 
Pier Paolo Pasolini. 
Das Original des Gedichts ist hier zu finden.

Zur deutschen Übersetzung.pdf

 

Prophezeiung

Ein Sohn kam auf die Welt
und eines Tages fuhr er nach Kalabrien:
es war Sommer, und leer
standen die Märchenhäuschen,
die neuen, aus Zuckerwatte,
aus Fabeln mit Feen
Farbe des Hungers. Leere.
Wie die Schweineställe ohne Schweine, in den Gärten kein Salat,
die Felder ohne Erde, ein Flussbett ohne Wasser. Das Land vom Mond kultiviert.
Ähren, die aus den Mündern von Skeletten wachsen. Der Meereswind vom ionischen Becken
schüttelt das schwarze Stroh wie in prophetischen Träumen:
und der Mond, Farbe des Hungers,
er kultivierte das Land,
das nie vom Sommer geliebt wurde.
Und es war an der Zeit des Sohnes,
dass die Liebe beginnen sollte
und nicht begann.
Der Sohn hatte Augen
verbrannt vom Stroh, Augen
ohne Angst, und alles sahen sie
selbst das, was schlecht war:
er verstand nichts von Agrokultur,
von Reformen, vom Kampf der Gewerkschaften
um gute Arbeit, gutes Leben,
er aber hatte diese Augen.

Jeder dunkle Bauer verließ
die neuen Hütten,
jene Ställe ohne Schweine,
auf dem Land mit der Farbe des Hungers,
unterhalb der runden Berge
mit Blick auf das prophetische Ionien.
Drei Jahrtausende vergingen,
nicht drei Jahrhunderte, nicht drei Jahre,
und erneut ist durch die Malarialuft,
die Ankunft griechischer Kolonisten zu spüren.
Ah, seit wann, Arbeiter von Mailand, kämpfst du nur noch um den Lohn?
Siehst du nicht, wie diese dich verehren
***
Auf ihrer Erde der vielen Rassen,
kultivierte der Mond ein Land,
das du ihm vergeblich beschafft hast.
Auf ihrer Erde der Familientiere,
ist der Mond Meister über die Seelen,
die du vergeblich modernisiert hast. Ach, mein Sohn weiß:
die Gnade des Wissens ist ein Wind, der seine Richtung ändert am Himmel.
Er bläst jetzt vielleicht schon aus Afrika und du hörst das,
was der Sohn aus Gnade weiß. Wenn er nun nicht mehr lacht,
liegt es daran, dass die Hoffnung ihm nicht Licht war, sondern Vernunft.
Und das Licht des afrikanischen Empfindens,
das unerwartet durch die Kalabrien zieht,
sei ein Zeichen ohne Bedeutung,
gültig für zukünftige Zeiten! Deshalb:
du wirst  den Kampf um den Lohn einstellen
und den Kalabresen Waffen  aushändigen.

***
Ali mit den blauen Augen
einer der vielen Söhne der Söhne,
aus Algerien,
auf Ruderbooten und Segelschiffen.
Mit ihm werden tausende Männer ziehen
ausgezehrte Körper mit Augen
armer Hunde wie ihre Väter
fort auf den Booten aus dem Reich des Hungers.
Sie werden ihre Kinder mitnehmen und das Brot und den Käse,
im vergilbten Papier vom Ostermontag. Sie werden ihre Großmütter mitbringen
und die Esel, auf den gestohlenen Booten in den Kolonialhäfen.
Bei Crotone oder Palmi gehen sie an Land,
Millionen in asiatischen Lumpen
und amerikanischen Hemden.
Und die Kalabresen werden sofort,
wie Straßenräuber zu Straßenräubern sagen:
”Seht unsere alten Brüder
mit den Kindern und dem Brot und dem Käse!”
Von Crotone oder Palmi ziehen sie nach Neapel
und von da nach Barcelona, Saloniki und Marseille
in die Städte des Malavita.
Seelen und Engel, Mäuse und Läuse
mit dem Keim der Antike
werden den Wilayet voranfliegen.
***
Und sie: immer bescheiden
immer schwach
immer schüchtern
immer erniedrigt
immer schuldig
immer untertänigst
immer klein,
sie wollten nie wissen, ihre Augen hatten sie nur, um zu flehen,
sie lebten wie Mörder unter der Erde, wie Banditen mitten auf dem Meer,
wie Verrückte mitten im Himmel,
sie machten sich Gesetze
außerhalb der Gesetze,
sie kannten nur eine Welt
unter der Welt
sie glaubten an einen Gott
der Gott dient
sie sangen zu den Gräueln des Königs
tanzten zu den Kriegen der Bourgeois,
beteten bei den Kämpfen der Arbeiter…
***
…sie legten die Achtung vor den
Religionen der Bauern beiseite,
vergaßen die Ehrsamkeit des schlechten Lebens,
verrieten die Unschuld der nativen Völker
hinter ihrem Ali mit den blauen Augen
– werden sie aus der Erde kommen, um zu töten- werden sie mitten aus dem Meer kommen,
um anzugreifen – sie kommen aus den Himmeln, um zu rauben – und bevor sie Paris erreichen,
lernen sie die Freude am Leben,
bevor sie London erreichen,
lernen sie frei zu sein,
bevor sie New York erreichen,
lernen sie Brüder zu sein
– sie werden Rom zerstören
und auf seinen Ruinen
pflanzen sie die Keimlinge der Antike.
Dann mit dem Papst und allen Sakramenten
ziehen sie wie Zigeuner
nach Nordosten
mit den roten Fahnen Trotzy’s
im Wind…

übersetzt von Günter Melle

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