Das 14. Berbertreffen in Offenburg
geschrieben von Günter Melle
"Für uns als Kulturförderverein Stud Offenburg war das 14. Berbertreffen ein absoluter Gewinn. Wir werden die Türen bei evtl. zukünftigen Projekten der Wohnungslosen ganz weit aufmachen.” Ein besseres Kompliment hätten die Organisatoren des 14. Berbertreffens in Offenburg nicht erhalten können. Es fasst all das zusammen, was die Teilnehmer auf dem abschließenden Forum gestern morgen bewegte und fühlten.
Der Begriff: Wir sind Berber
Zu Beginn des Treffens, am vergangenen Freitag, stand aber schon fest: das diesjährige Treffen der Berber wird etwas großes, ein Ereignis, das auf dem Erfahrungsschatz einer 14jährigen Tradition aufgebaut hat. Das Attribut “groß” steht im Bezug auf die düstere deutschtümelnde Soziallandschaft, die man ansonsten hierzulande gewöhnt ist, wenn es um extreme Armut, Erwerbs- und Wohnungslosigkeit geht.
Aus Sicht der öffentlichkeitsprägenden Mittelstandsgesellschaft sind “Berber” gescheiterte Existenzen, Leute, die durch irgendein individuelles Schicksal aus der “Normalität” des Zyklus Beruf, Arbeit, Familie, gesellschaftliche Anerkennung geschleudert wurden. Der Begriff Berber als solcher existiert dort nicht, allenfalls menschenfreundlich werden sie als Wohnungslose oder Obdachlose bezeichnet, die Sozialpädagogik beschäftigt sich mit ihnen als Menschen mit Suchtproblematik, als Menschen mit sozialen Defiziten und Integrationsproblematik, mit Menschen auf der Straße. Sie aber haben sich die Bezeichnung Berber zugelegt, Nomaden in den westlichen Wohlstandsgesellschaften, welche zwischen den Oasen in der Wüste kapitalistischer Barbarei umherziehen. Es ist eher ein “Kampfbegriff”, der es erlaubt, sich eine soziale Identität zu schaffen, in einem in der Regel feindlich gesinnten gesellschaftlichen Umfeld, das sie bestenfalls als Überflüssige qualifiziert. Zumeist gibt es kein historisches Bewusstsein, das sich auf die früheren Wurzeln der Armutsproduktion kapitalistischer Gesellschaften bezieht.
Den wohl berühmtesten “Berber” verkörperte Charly Chaplin. In seinem Film der “Tramp”, wird etwas von den Wanderarbeiter und Taglöhnerbewegungen in den Krisenzeiten des American Way of Life der Zwanziger Jahre wiedergespiegelt. Keine Slap Stick Erfindung des Jahrzehnts von Arbeitslosigkeit und Krieg war der vom Anarchisten zum Kommunisten konvertierte Gregor Gog. In seinen anarchistischen Jahren war er Mitbegründer der Bruderschaft der Vagabunden und Mitorganisator des Vagabundenkongresses 1927 in Stuttgart, der 500 Teilnehmer zählte. Von der stolzen, selbstbewussten politischen Haltung der Vagabundenbewegung in den 20iger Jahren des vorigen Jahrhunderts (Gregor Gog: “Generalstreik ein Leben lang!”), ist nicht mehr viel zu spüren. Und dennoch demonstrierten die vergangenen drei Tage des 14. Berbertreffens den Willen, gegen politische, ökonomische und gesellschaftliche Entmündigung anzukämpfen.
Das Thema: “Soziale Kämpfe in Europa – mit uns oder ohne uns?” und “Baden Württemberg 2020”
Drei Tage Diskussion und Workshops, forderten von den Teilnehmern ein hohes Maß an Konzentration und Bereitschaft zur Mitarbeit und das Treffen hätte gut noch weitere drei Tage fortgesetzt werden können, um die angesprochenen Themenfelder zu vertiefen. Die Vertreterin des Runden Tisches plädierte für ein bedingungsloses Grundeinkommen, im Gegensatz dazu erläuterte ein Sprecher der sozialen Protestbewegung Deutschland ihre Forderungstriade “500 € Regelsatz – 10 € Mindestlohn – 30 Stundenwoche”. Der stellvertretende Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Südbaden ging auf die Veränderung und Präkarisierung der Arbeitswelt unter neoliberalen Prämissen ein und eine Vertreterin von Attac-Offenburg beschrieb den internationalen Aktions- und Themenradius ihrer Organisation. Die Koordinatoren des Treffens konnten einen Vertreter der Parkschützer aus Stuttgart gewinnen, der über Aktion und Demokratie von unten sprach und zum nächsten Demokratieforum in Stuttgart einlud. Ein Beitrag besonderer Art kam vom Internetcafé Planet 13 aus Basel. Die Vertreterin berichtete über dieses Erwerbslosenprojekt, das relativ selbständig für das tägliche Überleben von Erwerbslosen sorgt und ihnen Perspektiven bietet. Die Vertreterin der Bundesbetroffeneninitiative Wohnungsloser gab in ihrem Input ein Überblick über den vergangenen und zukünftigen Aktionsradius der organisierten Wohnungslosen und in einem weiteren Input wurde über den Tomatenstreik in Apulien berichtet. Das Forum verabschiedete eine Solidaritätsadresse und sammelte Spenden zur Unterstützung der streikenden afrikanischen Landarbeiter in Nardó (Italien).
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Höhepunkt am ersten Tag des Berbertreffens war der Auftritt der Landtagsvizepräsidentin von Baden-Württemberg, Brigitte Lösch. Der Gemeindesaal von St. Fidelis bekam weiteren Zulauf durch Interessierte in der Stadt. Nach einer kurzen Beschreibung des Ist-Zustandes und der politischen Ziele von Grünrot, stellte sie sich der Diskussion. Einige Statements sollten an dieser Stelle festgehalten werden, über den Verlauf der Diskussion wurde ebenfalls ausführlich in der Lokalpresse berichtet, sodass sich eine ausführliche Schilderung erübrigt.
Statement Brigitte Lösch: | Anmerkungen: | |
Die Bundesregierung macht Arbeitsmarktpolitik mit der Abrissbirne! | Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt! | Rotgrün hat die Agenda 2010 zu verantworten. Gibt es einen Paradigmenwechsel? |
Das Sozialprogramm wird nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg entwickelt! | Wie soll das geschehen und wie werden sie eingebunden? | |
Wir wollen einen Armuts- und Reichtumsbericht! | der unabhängig und unter Beteiligung der Betroffenheit erstellt wird | |
Das Thema Landesarmutskonferenz verfolgen wir | ein Vorschlag der LAG Wohnungsloser in Ba-Wü, der mittlerweile in der Ausarbeitung abgeschlossen ist. Es fehlt nun noch der Gründungsschritt! | |
Es gibt einen Paradigmenwechsel im sozialen Wohnungsbau im Verhältnis 4:1 für den sozialen Wohnungsbau | Und die “Sachzwänge” des Marktes??? Wie will man ihnen entgegnen? Was tun, wenn sie, wie es immer heißt, nervös werden und ihr Vertrauen verlieren? Frau Lösch blieb eine Antwort schuldig… |
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Partizipation und Demokratie: Es wurde eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft ernannt. | ||
Wir wollen Dialog, aber Sie müssen uns auch auf die Nerven gehen! | Dafür werden wir hoffentlich sorgen. |
Die Themen waren Leit- und Diskussionsfaden für die kommenden Foren der nächsten zwei Tage, schließlich sollte am Ende des 14. Berbertreffens ein Ergebnis stehen, das für 2012/13 als Arbeitsprogramm zu gebrauchen ist.
Die Aktion: Demokratieforum und Demonstration
Am Samstagmorgen ist die Stadt wie üblich voller Leute. Die einen gehen auf den Wochenmarkt, die anderen flanieren zwischen Konsumtempeln und Schaufenstereinlagen, wir machen Aktionstag: so entschieden die Wohnungslosen.
In einer Zeit, wo selbst die Linke in ritueller Formel beschwört: “Wir sind depressiv – Ihr seid depressiv – aber wer organsiert die Depression ???” versucht das Straßentheater der Wohnungslosen im St. Ursulaheim sein Bestes, um die Depression der individuellen Situation anzupacken. Ein Sketch über die nicht wahrgenommene Armut hinter einer reichen Fassade. 12 Millionen in Deutschland, erfahren wir, sind von Armut betroffen. Aber wie gelingt es zwölf Millionen von Armut Betroffene nicht wahrzunehmen?
Die Antwort wäre vielleicht, dass der globale Feldzug des Kapitalismus zu Veränderungen im Hör- und Sehvermögen und des Bewusstseins geführt hat. “Geht arbeiten!” schreit einer. Aussehen: abgearbeitet, abgetragene Kleidung. Mit sichtbar zu hohem Blutdruck verschwindet er im Eingang des Kaufhauses, wo er eigentlich gar nicht so recht reinpasst. Der Platz füllt sich allmählich mit Berbern. Es wurde zum Teil recht frühe Morgenstunde, bevor es zum Schlaf kam. Gestern abend wurde Wiedersehen gefeiert, diskutiert, und im Stud Kultur genossen. Der Kulturförderverein hat dafür seine Räume zur Verfügung gestellt.
Das Straßentheater spielt mehrmals, dann werden die wenigen Requisiten in einen Handkarren gepackt und bei der nun beginnenden Demonstration mitgeführt. Wo sie entlang zieht, platzt die Stadt aus den Nähten und sie wird wahrgenommen, wohlwollend, gleichgültig aber auch feindlich, je nach Gesinnung und sozialer Herkunft. Es geht quer durch den Wochenmarkt und eine Riesenkette macht mit Plakaten in großen Lettern auf die Anliegen der Demonstration aufmerksam. Auf einem ist zu lesen: “Der Mensch beginnt da, wo der Staat aufhört!” Was für ein philosophischer Satz, denke ich, seit Entstehung des Staates der bürgerlichen Gesellschaft, immer wieder die gleichen Anmerkungen zu seiner Unversöhnlichkeit mit dem individuellen Streben nach Glück und Selbstverwirklichung.
Nach einer weiteren Aufführung des Straßentheaters zieht der Zug zum Ölberg. Der Ort ist wie geschaffen für ein öffentliches Meeting und die Kulisse, ein in Sandstein gehauenes Relief der biblischen Ölbergszene in der Interpretation des ausgehenden Mittelalters, verleiht der Situation ihren besonderen metaphorischen Reiz. Während die politische Gesellschaft schläft oder ihre Augen schließt vor der wachsenden Armut im Land, wird an diesem Ort der Ruf nach Menschlichkeit und sozialer Gerechtigkeit von den Ärmsten hörbar. Es ist von Dank die Rede, einer sagt, dass er zum ersten Mal auf dem Berbertreffen sei und Offenburg nie vergessen werde. Berber sind nicht gewöhnt, große Worte zu machen aber das, was auf dem Meeting geäußert wird, ist die Entschlossenheit, sich weiter zu engagieren.
Die Strukturen: Zwischen den Schlachten aß ich mein Essen
Und es muss organisiert sein. Und es war gut organisiert. Und es gab viele Helfer, die ganz praktisch zum Gelingen des Berbertreffens beitrugen. Viele von ihnen hießen Wu Ming, doch es schmälerte nicht den gastlichen Empfang. Von der Übernachtung bis zu den kulturellen Angeboten war in diesen drei Tagen gesorgt. Auf dem Gelände der Kirchengemeinde St. Fidelis konnte gezeltet werden. In der Wärmestube Wasserstraße und dem St. Ursulaheim gab es Schlafplätze, im Stud gab es Getränke und Kultur.
Am ersten Abend spielten dort zwei Gruppen, die Band Fernando mit lateinamerikanischer Musik, und die Rockband Papalagi aus Hausach. Beide Bands kamen an und spielten außer ihren Stücken noch so etwas wie ein Katalysator der Verständigung zwischen den sonst noch anwesenden, zumeist jugendlichen Gästen und den Berbern. Ein Jugendlicher begrüßte mich beim Betreten der Lokalität mit den Worten: “Wir sind keine Penner!” Ich begegnete ihnen später wieder im kleinen Aufführungssaal des Kulturvereins, sie standen umgeben von “Pennern”und wie diese mit der Bierflasche in der Hand, folgten sie dem Rhythmus der Musik. Das Publikum war international, Wohnungslose aus dem Osten, Migranten aus Nordafrika, Leute, die den Song Comandante Che Guevara auf spanisch mitsangen.
Auch der zweite Abend lief gelungen. Grillfest an der Wärmestube, Kulturabend im danebenliegenden Stud mit dem Bettlerchor und dem Performance-Künstler Michael Labres, der mit Songs von Bob Dylan und Beatles aufspielte. Und auf dem Gelände hinter der Wärmestube gemeinsames Feiern, Diskutieren, Austausch, Sichkennenlernen – mit Anstieg des Alkoholpegels manchmal auch in heftiger Weise.
Das Abschlussforum: Bilanz des 14. Berbertreffens
Nach dem gemeinsamen Frühstück war es Zeit zum Bilanzziehen. Nochmals wurden die Themen und Vorschläge der Foren aufgegriffen, um ihnen ein praktisches Überleben für die kommenden zwei Jahre zu garantieren. Im jetzt leer gewordenen Gemeindesaal von St. Fidelis saß nur noch die kleine Gruppe der Aktivisten, die mit zur Agenda im kommenden Jahr beitragen wollen.
Es war einmütig, dass das Berbertreffen auch im nächsten Jahr wiederum seinen Platz einnimmt. Noch in diesem Jahr soll es zur Konstituierung der Landesarmutskonferenz kommen: ein Projekt das von der Landesarbeitsgemeinschaft Wohnungsloser ausgearbeitet wurde. Weitere Vorschläge standen im Raum, die z.T. Projektcharakter, z.T. Aktions-, bzw. Kampagnencharakter hatten. Sie seien an dieser Stelle nochmals ohne besondere Gewichtung wiedergegeben, da sie noch weiterer Wertung und Ausarbeitung bedürfen:
Themen u. Arbeitskatalog 2011/12 | |
Marsch auf Berlin | Vorschlag war ein Armutsmarsch/camp – alternativ Straßburg; es gab Bedenken, dass mit den Ressourcen an Aktivisten i.d. Stadt ein derartiges Projekt zu realisieren sei; |
Sozio-Kulturelles Zentrum | Der Vorschlag resultiert aus der Diskussion mit Frau Lösch und bezieht sich auf eine Perspektive örtlicher Strukturen der Armutsbekämpfung als weitergefasstes Projekt; |
Partei der Armut | die Anregung kam aus Köln, sich bei den Lokalwahlen einmischen; |
Für eine demokratische Sozialarbeit | Ein Thema das bereits auf der Armutskarawane zur Debatte stand und die politische “Abstinenz” der Sozialarbeit beleuchtet |
Landesarmutskonferenz | ist in der Phase der Umsetzung und steht auf der Agenda 2011 |
Armutscamp September 2011 in Freiburg | ist in der Phase der Vorbereitung |
Institut für “harte Armut” | Ein Vorschlag, der darauf abzielt, theoretische und praktische Unterstützung in Partizipations- und Mobilisierungsprozessen bereitzustellen; |
Und so ging es, nachdem man sich darauf geeinigt hat, wie mit den Themen weiter verfahren werden soll (als Arbeitsauftrag für die Organisationen der Wohnungslosen) dem Abschied entgegen.
Vielleicht hat es der Sprecher des Kulturvereins Stud auf den Punkt gebracht, wenn er anmerkte: “Ich habe sehr viel Optimismus bemerkt!” Grund zu dieser Feststellung gab es die drei Tage über genug.
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