Ära unverhüllter Gewalt

Rosa Luxemburg, 1913

220px-Rosa_LuxemburgRosa Luxemburg untersuchte 1913 in ihrer Studie über »Die Akkumulation des Kapitals« den Übergang vom Freihandel des 19. Jahrhunderts zum Imperialismus

Als die Freihandelsära (Mitte des 19. Jahrhunderts – d. Red.) anhub, wurde Ostasien erst durch die Chinakriege erschlossen, in Ägypten stellte das europäische Kapital die ersten Schritte.

In den 80er Jahren setzt parallel mit dem Schutzzoll die Expansionspolitik mit zunehmender Energie ein:

  • Die Okkupation Ägyptens durch England (1882 – d. Red.),
  • die deutschen Kolonialeroberungen in Afrika (ab 1884 mit »Deutsch-Südwestafrika« – d. Red.),
  • die französische Okkupation von Tunis (1881 – d. Red.) und die Expedition nach Tonking (1873 – d. Red.),
  • die Vorstöße Italiens in Assab und Massaua, der abessinische Krieg und die Bildung Eritreas 1890 – d. Red.),
  • die englischen Eroberungen in Südafrika- (1889 wird Rhodesien, heute Simbabwe, britische Kolonie – d. Red.)

Alle diese Schritte folgten in einer ununterbrochenen Kette die 80er Jahre hindurch.
Der Konflikt zwischen Italien und Frankreich wegen der Interessensphäre in Tunis (1881 – d. Red.) war das charakteristische Vorspiel zu dem franko-italienischen Zollkrieg sieben Jahre später, der als drastischer Epilog die freihändlerische Interessenharmonie auf dem europäischen Kontinent abgeschlossen hat. Die Monopolisierung der nichtkapitalistischen Expansionsgebiete im Innern der alten kapitalistischen Staaten wie draußen in den überseeischen Ländern wurde zur Losung des Kapitals, während der Freihandel, die Politik der »offenen Tür«, zur spezifischen Form der Schutzlosigkeit nichtkapitalistischer Länder gegenüber dem internationalen Kapital und des Gleichgewichts dieses konkurrierenden Kapitals geworden ist, zum Vorstadium ihrer partiellen oder gänzlichen Okkupation als Kolonien oder Interessenssphären. (…)
Die kapitalistische Akkumulation hat somit als Ganzes, als konkreter geschichtlicher Prozess, zwei verschiedene Seiten.
Die eine vollzieht sich in der Produktionsstätte des Mehrwerts – in der Fabrik, im Bergwerk, auf dem landwirtschaftlichen Gut – und auf dem Warenmarkt. Die Akkumulation ist, von dieser Seite allein betrachtet, ein rein ökonomischer Prozeß, dessen wichtigste Phase zwischen dem Kapitalisten und dem Lohnarbeiter sich abspielt, der sich aber in beiden Phasen, im Fabrikraum wie auf dem Markt, ausschließlich in den Schranken des Warenaustausches, des Austausches von Äquivalenten bewegt. Friede, Eigentum und Gleichheit herrschen hier als Form, und es bedurfte der scharfen Dialektik einer wissenschaftlichen Analyse, um zu enthüllen, wie bei der Akkumulation Eigentumsrecht in Aneignung fremden Eigentums, Warenaustausch in Ausbeutung, Gleichheit in Klassenherrschaft umschlagen.
Die andere Seite der Kapitalakkumulation vollzieht sich zwischen dem Kapital und nichtkapitalistischen Produktionsformen. Ihr Schauplatz ist die Weltbühne. Hier herrschen als Methoden Kolonialpolitik, internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege. Hier treten ganz unverhüllt und offen Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung zutage, und es kostet Mühe, unter diesem Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses aufzufinden.
Die bürgerlich-liberale Theorie faßt nur die eine Seite: die Domäne des »friedlichen Wettbewerbs«, der technischen Wunderwerke und des reinen Warenhandels, ins Auge, um die andere Seite, das Gebiet der geräuschvollen Gewaltstreiche des Kapitals, als mehr oder minder zufällige Äußerungen der »auswärtigen Politik« von der ökonomischen Domäne des Kapitals zu trennen.
In Wirklichkeit ist die politische Gewalt auch hier nur das Vehikel des ökonomischen Prozesses, die beiden Seiten der Kapitalakkumulation sind durch die Reproduktionsbedingungen des Kapitals selbst organisch miteinander verknüpft, erst zusammen ergeben sie die geschichtliche Laufbahn des Kapitals. Dieses kommt nicht bloß »von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blut- und schmutztriefend« zur Welt, sondern es setzt sich auch so Schritt für Schritt in der Welt durch und bereitet so, unter immer heftigeren konvulsivischen Zuckungen, seinen eigenen Untergang vor.
Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals.Hier zitiert nach: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke Band 5. Dietz Verlag, Berlin 1990, Seiten 395–398

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