ver.di OV Offenburg lud zur Stadtbegehung ein
Orte sind “zweischneidige” Angelegenheiten, die zum Verweilen einladen. Sie beherbergen vergessene Orte aber auch Orte des Vergessens. Eine kleine Gruppe mit 15 Kolleginnen und Kollegen versuchte am vergangenen Sonntagvormittag, sie als Orte der Erinnerung wahrzunehmen.
Du gehst durch die Stadt, zur Bushaltestelle, in den Betrieb oder zum Einkauf; du denkst, dass du die Stadt kennst – aber kennst du sie wirklich? “Tschuldigung, wo geht es hier zum alten Gewerkschaftshaus! … Keine Ahnung… Ist das wichtig?” Insofern, dass damit einige Informationen verbunden sind, wie die industrielle Geschichte der Stadt stark von der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung geprägt wurde. In heutigen Zeiten ist es nicht üblich, der historischen Entwicklung einer Stadt aus der Sicht der Arbeiterbewegung nachzugehen.
Der erste Gewerkverein wurde von Hutmachern gegründet. Im Zuge der Industrialisierung folgten Eisenbahner, Metallarbeiter, Tabak- und Zuckerarbeiter/innen. Das alte Gewerkschaftshaus stand nicht weit vom heutigen DGB-Haus. Es wurde 1933, mit der Machtübernahme des deutschen Faschismus, beschlagnahmt. Das beschlagnahmte Vermögen der Gewerkschaften diente übrigens zum Aufbau der Volkswagenwerke. Erst in den 60iger Jahren folgte der Bau des DGB-Hauses, exakt gegenüber vom Offenburger Hauptbahnhof. Es scheint aber, dass die Gewerkschaftsbewegung in Offenburg seine besten Zeiten hinter sich hat. Das DGB-Haus steht zum Verkauf und vor Ort sind lediglich noch die Geschäftsstellen der IGMetall und ver.di. “Es ist fast ein Abbild des desolaten Zustandes der auf Sozialpartnerschaft fixierten Gewerkschaftsbewegung”, merkte ein Kollege an.
“Um das Gebäude ist es nicht schade”, sagte der IGMetall-Kollege, der der kleinen Gruppe sein über Jahrzehnte erworbenes Wissen einer anderen Stadt Offenburg, der kämpfenden, gequälten und geschundenen lokalen Arbeiterbewegung, mitteilte. Dazu gehörte auch das düstere Kapitel der Judendeportationen, des Progroms und der Zwangsarbeit.
Der Fahrplan nach Auschwitz
Der ist in Form einer Gedenktafel am DGB-Haus angebracht. Die Frage ist, was geschieht mit ihr, nachdem der Verkauf des Gebäudes realisiert wurde. Die Deutsche Bahn lehnt bis dato ab, die Tafel an der Eingangshalle zum Bahnhof anzubringen. Der staatliche Vorgängerkonzern, die Reichsbahn, dessen Erbmasse in das Vermögen der deutschen Bahn AG einfloss, hat seine Probleme mit der Vergangenheit. Schließlich hat sich die Reichsbahn noch an ihren Opfern bereichert, indem sie sich die Fahrt ins Gas von ihnen bezahlen ließ. Laut einem Gutachten des „Zug der Erinnerung“ betragen die Deportationseinnahmen aus der Mordbeihilfe der „Reichsbahn“ mindestens 445 Millionen Euro heutiger Währung.
Eine neue Gelegenheit die Gedenktafel doch noch am Bahnhofsgebäude anzubringen, bietet sich mit dem Verkauf des Bahnhofsgebäudes. Die anwesenden Mitglieder des Ortsvorstandes bekräftigten, dass sie eine derartige Forderung an die Stadt unterstützen werden.
Die Union Brücke
Der Weg in die Oststadt führt vom Bahnhof über die Unionbrücke. Von hier aus ist das Finanzamt – ehemals ein jüdisches Hotel, der Schwarzwälder Hof, zu sehen Hier bewegte sich auch die 8. Baubrigade, die von der Offenburger Bevölkerung wahrgenommen wurde. Zeitweise standen die 8., die 9. und 10. Baubrigade sowie ein Bauzug mit Gefangenen des KZ Flossenbürg auf den Offenburger Gleisen – insgesamt 1.500 Häftlinge. Die Gefangenen wurden zur Ausbesserung der Gleisanlagen eingesetzt. Die Bombenangriffe brachten hohe Verluste unter den Zwangsarbeitern der Brigade, da sie nicht wie die Kapos und SS Wachmannschaften, in die Schutzräume durften. Neben den beiden ständig rollenden KZ’s der Baubrigaden, gab es noch in der Artilleriekaserne, ebenfalls in der Nähe des Bahnhofs, ein KZ im Keller des Gebäudekomplexes. Dort wurden 1945, beim Heranrücken der Resistancetruppen, 41 nichttransportfähige Häftlinge brutal mit Eisenstangen von der SS ermordet.
Die Erinnerungskultur
Die Gruppe zieht weiter in die Oststadt, hinüber zum Schillergymnasium, das am 22. Oktober 1940 als Sammelstelle für die Deportation Ortenauer Juden in das Lager Gurs, Südfrankreich, diente. “Von den 101 nach Gurs Deportierten wurden 27 gerettet und 74 sind später in Auschwitz umgekommen”, sagte der IGMetall-Kollege. Am Schillersaal des Gymnasiums ist eine Gedenktafel angebracht, die aber völlig unzulänglich bleibt, da die Namen aller Deportierten, sowie das an ihnen verübte Verbrechen, dokumentiert aber nicht öffentlich ist. Wir brauchen hier eine Gedenktafel, die dem Stand des Wissens auch Rechnung trägt. Die Stadt hat, mit der Vergangenheit faschistischer Barbarei, ihre eigenen Schwierigkeiten der Verstrickung, von heute noch und wieder angesehener Namen.
Das war auch an den Massengräbern jüdischer und sowjetischer Zwangsarbeiter auf dem Stadtfriedhof nachvollziehbar. Vor wenigen Jahren wurde dort, neben den beiden Gedenksteinen, eine weitere, anonym gestiftete Stehle aufgestellt: im Andenken an “die Opfer des Krieges”. Da, wo sie gut sichtbar und vorrangig errichtet, dem Friedhofsbesucher ins Auge fällt, ruhen aber nicht die Opfer des Krieges, sondern die Opfer der Täter. Das Gedenken der Stadt, an ihren gewaltsamen und mitverschuldeten Tod, drückt sich in mittlerweile unkenntlichen und restaurierungsbedürftigen Namen und dem schleichenden witterungsbedingten Zerfall aus. Ein steinernes Denkmal, das vom sowjetischen Konsulat in Baden-Baden errichtet wurde und in kyrillischer Sprache auf das Schicksal ihrer Zwangsarbeit hinweist, wurde in keinem Jahrzehnt der Übersetzung für würdig befunden. Es sind vergessene Orte und Orte des Vergessens. Nach wie vor bleibt es den wenigen antifaschistischen Kräften der Stadt vorbehalten, sie aus dem Dunkel kollektiver Verdrängung herauszuholen. Am vergangenen 8. Mai waren kaum mehr als zehn Personen anwesend, die anlässlich des Tags der Befreiung vom Faschismus, den Opfern der Barbarei gedachten. Was für eine Aussage zu einer Zustandsbeschreibung politisch bewusster Kräfte.
Der neoliberale Wahn unserer Zeit, sein Bestreben, die Mitglieder der Gesellschaft in der erzeugten Eindimensionalität von “Denkfabriken” einzufangen, hat tiefe Spuren in unserem Bewusstsein von Geschichte hinterlassen. Ein arbeitsloser Kollege, Mitte zwanzig, von Beruf Gärtner, gestand, dass er nur wenig von dem wusste, was während der Stadtbegehung so anschaulich an Geschichte demonstriert wurde. Er wird dieses Jahr noch ein freiwillig-soziales Jahr in Peru beginnen. Es ist zu hoffen, dass er mit den Ideen des Buen vivir zurückkommt, mit dem Gedanken, dass der Mensch und nicht die anonymen Kräfte des Marktes der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Handelns und Zusammenlebens darstellt.
Das wussten die Arbeiter der Glasplakatfabrik in der Zellerstraße noch sehr gut und die lokalen Kapitalisten hatten vor nichts mehr Angst, als wenn die Arbeiter verschiedener Branchen gemeinsam mit den Eisenbahnern in den Streik zogen.
In der Nachbesprechung wurde die Stadtbegehung als nützlich und wertvolles Bildungserlebnis eingeschätzt. Es war auch Einverständnis, dass die Gruppe daraus weitere Verpflichtungen der politischen und antifaschistischen Arbeit in den Gewerkschaften ableitet. Aus dem Vorstand war zu hören, dass hier drei Punkte weitere Beachtung finden sollen:
1. Die Forderungen an die Stadt, nach einer Pflege des historischen Erbes im antifaschistischen Kontext.
2. Weitere Recherchen über die Lokalgeschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung.
3. Die Fortsetzung dieser gelungenen Veranstaltung.
4. die Erstellung eines Planes mit den diesbezüglich markanten Punkten in der Stadt Offenburg und die Zuordnung des aufbereiteten historischen Materials.
“Es gibt noch viel zu tun… V.a. im Verständnis dessen, was Geschichte mit unseren Lebens- und Arbeitsbedingungen von heute zu tun hat…”, so der IGMetall Kollege.
verfasst von: Günter Melle
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