Günter Melle
Anmerkungen zu einem Beitrag von Ruth Jung im Deutschlandradio Kultur zum sogenannten ökonomischen Aufschwung.
Vergebliche Suche am 1. Mai, dem Tag der Arbeiterbewegung, repräsentativ zur Bedeutung des Tages, einer Thematisierung der sozialen Frage in den Medien auf die Spur zu kommen. Die Seligsprechung des 2005 verblichenen Papstes war an diesem Tag der Renner und ganz im Stile der Irrationalität unserer Zeit, das Rekordtempo mit der die jubelnde Menge nun auch noch auf das Event des “Sancto subito” hoffen kann. Fragte ich hier vor Ort nach dem Grund der noch geringeren Beteiligung an der Gewerkschaftsveranstaltung zum 1. Mai, meinten Leute, die es wissen es müssten: “Es war ja auch weißer Sonntag, mit dem wir zu konkurrieren hatten!”
Eben nun am 2. Mai ist mein Interesse auf das Politische Feature im Deutschlandradio Kultur gerichtet. Die Autorin Ruth Jung hat in ihrem Beitrag “Auf Sand gebaut” die Schattenseiten des sogenannten ökonomischen Aufschwungs, das Anwachsen der Armut, der prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen, die gesellschaftliche Ausgrenzung derer, die schon lange nicht mehr mithalten können, thematisiert. Ich komme gerade von einer Diskussionsrunde in der Wärmestube, einer Tageseinrichtung der Agj (Arbeitsgemeinschaft für Gefährdetenhilfe und Jugendschutz e.V.) für Wohnungslose, wo tagtäglich das irgendwie gleiche Thema Armut, praktisch, anschaulich und knallhart auf der Tagesordnung steht.
Ich schätze die Autorin, gerade auch deshalb, weil sie des Öfteren schon, nach meinem Verständnis, qualitativ gute Beiträge zu sozialen Themen ablieferte. Bekannt wurde sie auch durch ihr Buch “Sand im Getriebe”, das sich mit dem Entstehen von neuen, globalen und sozialen Bewegungen beschäftigt. Heute Abend, vielleicht ist es dem gerade Erlebten in der Wärmestube geschuldigt, stellte ich mir gleich in den ersten Minuten des Features die Frage, wozu, für wen und warum schreibt sie das alles? Dabei sollte doch Danke gesagt werden, für einen Beitrag, der sich argumentativ und gut recherchiert, überzeugend mit der anwachsenden Armut beschäftigt und darüber hinaus noch ein Publikum erreicht, das sich den eingängigen Klischees des Informationszugangs entzieht.
Aber es ist ein “depressiver” Beitrag, einer der exemplarisch zu beschreiben versucht, was mittlerweile Millionen Working Poor auszuhalten haben, der eher das Gefühl vermittelt, verstärkt einer Maschinerie ausgeliefert zu sein, aus der es kein Entrinnen gibt. Und es ist weiterhin ein Beitrag über die desolate Situation der empirischen Sozialforschung, die nichts weiter anzubieten hat als die Übersetzung akkumulierter statistischer Sozialdaten in ein Modell sozialer Verhältnisse, die scheinbar über die Stellschrauben der Vernunft veränderbar sind.
So beklagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge gleich zu Anfang den “Paternostereffekt” des Aufschwungs, d.h. die einen fahren nach oben, die anderen nach unten. Es geht also um Verteilungskämpfe, die sich längst schon am verinnerlichten TINA – Prinzip orientieren. Für Butterwegge geht es darum, dass alle in eine Richtung nach oben fahren, am wirtschaftlichen Aufschwung partizipieren können. Daraus resultiert die These, dass der ökonomische Aufschwung nur einen Teil der Gesellschaft profitabel erfasst, während der andere abgehängt bleibt.
Im Mai 2010 zog anlässlich des europäischen Jahrs gegen Armut Ausgrenzung eine Armutskarawane durch’s südliche Dreiländereck. Sie wurde weitgehend von den Medien ignoriert und führte ebenso ein Schattendasein wie die öffentliche Diskussion um das Thema selbst. Eine der Stationen der Karawane war Heidelberg und dort suchte sie das Gespräch mit dem Armutsforscher Professor Kohl an der Soziologischen Fakultät. Der freundliche Wissenschaftler erzählte den kontaktfreudigen Wohnungslosen, dass er sich schon über dreißig Jahre mit dem Thema Armut beschäftige. Sie wollten wissen, was dabei herausgekommen sei. Die Antwort des Professors war dürftig, und sie erfuhren, dass er wohl weiter Armutsberichte mitschreiben wird und darüber hinaus, ihm die theoretische Beschäftigung mit dem Thema Armut wohl noch längere Zeit garantiert bleibt. Die Teilnehmer der Karawane haben beschlossen, ihre Betroffenheit selbst in die Hand zu nehmen.
Die Protagonisten des Features stehen “für” prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen. Wir lernen Rosemarie Fischer in dem mittlerweile zum Nobelviertel gemauserten Stadtteil Nordend von Frankfurt a.M. und den Leiharbeiter Ralf aus dem Südbadischen kennen. Was beide eint, ist der Kampf ums Überleben im unteren Drittel der Gesellschaft aber auch die Biederkeit mit der sie ihre Situation beschreiben. Nichts ist zu spüren von der Wut im Bauch, über die der Regisseur Martin Keßler in seiner Dokumentation “Neue Wut” anlässlich der Einführung von Hartz IV berichtet und die begeistert 2005 auf dem deutschen Sozialforum in Erfurt registriert wurde. Nicht ein Gramm moralischer Empörung, wenn Rosemarie Fischer, 80 Jahre, erzählt, wie sie ihren behinderten Sohn und das älteste Enkelkind durchbringt. Nicht ein Gramm moralischer Empörung, wenn Ralf die Ausbeutung beim Sklavenhändler schildert. Beide leiden und erdulden, während die “Fachleute” in Sachen Armut mit unterschiedlicher Tendenz interpretieren.
“Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ (K.Marx, Feuerbachthesen, 1888)
Interpretation erhalten wir im Beitrag auch von hauptamtlicher Gewerkschaftsseite. Dass einige Akteure schon lange vergessen haben, dass sie diese Verhältnisse von Armut und Ausgrenzung über die Teilnahme an der Hartz IV – Kommission mit zu verantworten haben, hört sich nach derzeitiger Lesart so an, dass die Gewerkschaften lange Zeit ignorierten, dass der Staat das durch Hartz IV geschaffene Lohndumping subventioniere.
Dass der Neoliberalismus mit all seinen Verlockungen auch das Ende der Geschichte und somit des historischen Bewusstseins versprach, schlägt sich in allen Erklärungsversuchen der Fachleute nieder. Wenn Armut besonders Frauen trifft, gehört dies ebenso mit zu den systemischen Voraussetzungen des Kapitalismus wie die offene und verdeckte Kinderarbeit. Es ist gut, dass der Beitrag das feminine Gesicht der Armut und Working Poor betont. Dennoch, es bleibt zum Ende des Beitrags der schale Geschmack über ein Feature, das lediglich nur bestätigt: There is no alternative!