Günter Melle
Sie kennen den Witz? Zwei Arbeitslose treffen sich im Kaufhaus. Haben Sie schon gefrühstückt fragt der eine? Nein, sagt der andere, ich halte am Morgen strikt Null-Diät. Dafür leiste ich mir aber ab und an ein gutes Event! Aber, wo ist da der Witz? Geduld… Es wäre kein guter Stil, gleich mit der Pointe zu beginnen, wenn es was zu erzählen gibt.
Stenogramm eines Erwerbslosen
Ein Samstagmorgen, nicht so wie jeder andere. 7:30 h Aufstehen; Gedanke: Zu früh für einen Arbeitslosen. Hund spazieren führen. Abstecher auf den Wochenmarkt. Gedanke: Man will ja auch was Frisches in den Magen bekommen. Ausführliche Morgentoilette. Gedanke: Kacke, die Rasierklingen sind bald wieder alle! Einen Kaffee runterspülen. Zwischendurch Nachrichten: “Explosion in einem Reaktor von Fukushima 1”. Gedanke: Kernschmelze? Fahrrad aufpumpen, dann ab in Richtung Bahnhof. Hopp, hopp, hopp, Atomausstieg sofort. Trete im Takt in die Pedale.
An der Straßenabbiegung zur Post steht Erich. Handy im Anschlag. Nimmt von mir Notiz. Fällt mir um den Hals. Kommentar: “Ich wusste, dass du dabei bist!” Gedanke: Noch eine Zigarette bis der Bus losfährt. Stehe vor dem Einstieg. Langsam trudeln die Leute ein. Einige bekannte Gesichter, ansonsten: Guten Morgen, Hallo, Wie geht`s. “Kann man schon einsteigen?” fragt Frau. Antwort: Ja. Entschuldigend: Warte noch auf eine Freundin, …Gewerkschafterinnen kommen immer auf den letzten Drücker. Wird akzeptiert und keine weiteren Nachfragen. Die Freundin radelt mittlerweile auch herbei. Einstieg in den Bus. Oben sitzen zwei weitere erwerbslose Kolleginnen. Belegen zwei freie Plätze in ihrer Nähe. Habt ihr schon gefrühstückt? Es werden Brioche rumgereicht. Um 9:50 h Abfahrt. Sparpreis 10 €.
He ho, leistet Widerstand
Und unterwegs immer wieder Non-stop-Nachrichten aus Japan. Sie sind noch recht vage, zumindest in der exakten Beschreibung dessen, was sich in Fukushima tatsächlich ereignet. In einem Kommentar wird von Hamsterkäufen in Supermärkten berichtet, welche zu leeren Regalen führten. Wie schlagen sich jetzt wohl die Leute durch, die alles verloren haben? Das Katastrophenszenario ist perfekt und es scheint, dass die Eliten äußerst bedacht sind, die sog. öffentliche Ordnung unter Kontrolle zu halten. In solchen Momenten wird zur Methode der tropfenweisen Verabreichung von nicht mehr zurückzuhaltenden Informationen gegriffen. Im Bus herrscht die Meinung vor, dass es zur Kernschmelze gekommen sei. Die Fahrt nach Kornwestheim vergeht im Flug der erörterten Themen, welche die Zeitgeschichte dieser Tage auf dem Tableau bereithält.
Wir steigen am Haltepunkt 26, irgendwo in der schwäbischen Pampas, Nähe Kernkraftwerk, aus. Aus dem Bus werden die mitgeführten Transparente entpackt und unser Pulk von 200 Atomkraftgegnern verteilt sich in beide Richtungen, um Anschluss zu den beiden entgegensetzten Haltepunkten der geplanten Menschenkette zu finden. Wie vorausgesagt sind wir pünktlich angekommen und es bleibt noch eine Stunde, bis zur Realisierung des Protests.
Vorerst wird geübt und immer wieder “Heerschau” gehalten, ob es gelingen wird, das Vorhaben einer 45 km langen Menschenkette vom Landtagsgebäude in Stuttgart bis zum Kernkraftwerk Neckarwestheim zu bilden. Die Stimmung ist gut und entspricht einem freundlichen, warmen Frühlingstag, wo es auf dem Land nach Acker und neuem Leben riecht. Wie so sehr verschieden die Erfahrungen im Zeitalter der Globalisierung ausfallen. Hier der friedliche Protest von Atomkraftgegnern, dort das Leiden der Bevölkerung, hinter dem die Katastrophe und der Tod steht.
Um 13:30 wird die Kette geschlossen und es gelingt. Sechzigtausend Menschen sind gekommen, um dieses Protestvorhaben in die Tat umzusetzen. Eine Kollegin nebenan ist von Strasbourg hierhergekommen. Es sind auch Leute aus Bayern und Hessen an dieser Stelle auszumachen. So mitten auf einer ländlichen Straße sind das fast einzige Publikum die Alleebäume, die sich scheinbar aus Mitleid mit unserem Alleinsein, parallel zu unserer Kette, ebenfalls in Reihe aufgebaut haben. Sie werden, wenn sie den Fortschritt planungswütiger regionaler Verkehrsexperten überleben, dieses Erlebnis auch noch in hundert Jahren weitererzählen können.
Und immer wieder “Mappus muss weg!” Er ist unter einheimischen Atomkraftgegnern als Lobbyist der Atommafia und ihrer Konzerne verschrien und man ist sich sicher, dass sich erst dann mit Neckarwestheim was ändern wird, wenn er und die Atomparteien von der politischen Bühne abgetreten sind. Während die Reihen festgeschlossen sind, werden sie gelegentlich von dafür vorgesehenen Organisatoren inspiziert. Sie fahren auf ihren Fahrrädern an uns vorbei und signalisieren: die Menschenkette steht, sie ist geschlossen.
Für eine halbe Stunde war der Beweis erbracht, dass wenn sich Menschen im gemeinsamen Widerstand die Hände reichen, die Hoffnung auf Änderung der Zustände Gestalt annimmt. Zuversichtlich fahren wir in die Landeshauptstadt zur Abschlusskundgebung, wo von allen Rednern die Entschlossenheit ausgedrückt wird, weiterzumachen, bis der Atomstopp erreicht ist.
Aber wo ist der Witz?
Es war trotz aller getrübter Nachrichten dieses Tages eine gelungene Aktion. Es wurde gelacht und es wurden neue Erfahrungen gemacht und neue Leute kennengelernt. Wir leisteten uns oben am Schlossplatz einen Kaffee und saßen am Tisch mit einem pensionierten Juristen, der politisch desillusioniert, so wie wir, auf der Suche nach Alternativen ist. Die Diskussion am kleinen Tisch vor dem Café hatte gutes Niveau und zeugte, dass die Leute anfangen, über ihre eigenen Geschicke nachzudenken. Ob Hartz IV, ob Atomkraft, ob Leiharbeit oder Stuttgart 21, bilden wir eine Einheit in der Vielfalt, um eine neue Welt zu schaffen, die weder Umweltzerstörung noch Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit kennt.
Ach ja noch: Für die Mobilisierung zur Menschenkette ist dem BUND Ortenau und der Bürgerinitiative Umweltschutz Offenburg e.V. zu danken. Sie brachten 4 Busse voll mit Atomkraftgegnerinnen nach Württemberg. Wir waren heute hier für unsere Familien, Kinder, Enkelkinder, für unsere Rechte auf ein menschenwürdiges Leben.
Dank an Euch!