Samuel Ruiz ist tot

Samuel_Ruiz

Mit 86 Jahren ist der emeritierte Bischof von Chiapas Samuel Ruiz gestorben. Er führte ein Leben an der Seite der indigenen Völker und ihrer Kämpfe. Er war Mediator in der Conai (Comisión nacional de intermediación) zwischen Zapatisten und der mexikanischen Regierung. Er blieb seinen Bemühungen, sich für die Rechte und die Würde der indigenen Völker einzusetzen, immer treu, auch wenn er – nicht zufällig – aus Chiapas versetzt wurde. Er wird in der Cattedrale von San Cristobal bestattet werden. Nachfolgend die Übersetzung eines Interviews, das er 2004 Mario Calabria gab und das in der italienischen Zeitschrift Carta mit dem Titel “Das Evangelium der Maya” publiziert wurde.

Im Jahr 1974 organisierte der Gouverneur von Chiapas einen Indigenenkongress. Er beabsichtigte ein akademisches Meeting. Vielleicht  war damals der Beginn der indigenen Hirtenbriefe des Bischofs, die nicht dazu dienten, die kastilische Sprache zu lehren, zu emanzipieren und zu evangelisieren, sondern die Sprache und Kultur seiner Gemeinde kennen zu lernen. Im August 1993 schrieb Don Samuel einen neuen Hirtenbrief “En esta hora de gracia” (In dieser Stunde der Gnade). Er war die Antwort auf den Gruß von Papst Johannes Paul II, der Yukatan besuchte. Der Brief war Anlass, ihn zum Rücktritt  aufzufordern. Die Bevölkerung von Chiapas konnte ihn aber bewegen, weiter in seinem Amt zu bleiben. Wenige Monate später wurde er so zur Schlüsselfigur eines Dialogs, der für unmöglich gehalten wurde. Es war der Dialog zwischen den aufständischen Zapatisten und der mexikanischen Regierung. Ende des Jahres 2003 schrieb Bischof Ruiz einen weiteren Hirtenbrief mit der Überschrift: “Una nueva hora de gracia” (Eine neue Stunde der Gnade).

Die Geschehnisse der letzten Zeit, ich denke vor allem an den Irak, scheinen der Überschrift ihres letzten Hirtenbriefes zu widersprechen. Warum müssen die Mächtigen dieser Erde soviel Blut vergießen? Und was denken Sie, können wir, außer an Gott, auch auf die Zivilgesellschaft im Widerstand gegen den Krieg hoffen?

Ich möchte Ihnen zunächst für dieses Interview danken und v.a. für diese Frage. Der Hirtenbrief negiert nicht die derzeitige Situation, die das System beherrscht. Im Gegenteil, er bestätigt sie. Und gerade deshalb zieht er es vor, die Dinge zu benennen, die jetzt betrachtet werden können, um Hoffnungen auf eine Änderung der Gesellschaft zu begründen. Er benennt die positiven Zeichen, welche den Christen Hoffnung geben können. Was im Irak geschieht, steht im Widerspruch zu dem was ich sage. Das herrschende System ist nicht für den Menschen, sondern gegen den Menschen gemacht. Es begründet sich auf der Konzentration von ökonomischer und politischer Macht und nicht auf der menschlichen Würde. Dieses System ist dabei, die Menschheit zu zerstören.

Sie haben die Jahre des Freihandelsabkommens Nafta in Mexiko erlebt. Denken Sie, dass die Erweiterung dieses Abkommens Alca auf den ganzen Kontinent das Leben der Bevölkerung in den ärmsten Regionen Südamerikas verbessern kann?  Mit anderen Worten ausgedrückt, ist Entwicklung noch ein Synonym für Wohlstand?

Die Erfahrung sagt uns, dass Entwicklung nicht die Bevölkerung begünstigt, sondern die Konzentration der Macht. Kurz nach der Einführung der Nafta fuhr ich in die Regionen Südkanadas. Eines Tages stieß ich dort auf  gut aussehende Äpfel und probierte einen. Er war sehr saftig und so kaufte ich sie. Die Verkäuferin sagte mir, dass dies die letzten Äpfel aus dieser Region seien. Ich antwortete, dass ich wüsste, dass die Saison sich dem Ende zuneigt. Sie erwiderte, dass Äpfel in dieser Gegend nicht mehr angebaut würden, weil das Freihandelsabkommen die Einfuhr kalifornischer Äpfel vorschreibt. Die Leute, deren wirtschaftliche Grundlage entzogen wird, verlassen diese Gegend. Ich spreche nicht von der Unterschicht, sondern von der Mittelschicht.

Mit Inkrafttreten des Abkommens wurden Chiapas zwei oder drei Gemeinden gewaltsam vertrieben, obwohl es ein Dekret des Präsidenten gibt, dass die Gemeinden Herren ihres Landes sind. Die Realität war, dass dieses Land an Japan verkauft wurde, um dort eine “Kulturstraße der Maya” zu bauen. Die Leute dieser Gemeinden wurden daraufhin fortgejagt und es erhöhten sich auch sofort die Steuern auf Landbesitz. Einige hätten sie nicht mal mit der Ernte eines Jahres bezahlen können. Allmählich kamen dann auch Fremde an, die Land aufkaufen wollten und die Verfassung wurde verändert, um die Kaufbedingungen zu erleichtern. 

Der Druck des Freihandels ist sehr groß und begünstigt die Konzentration der Macht. Die Globalisierung verringert die Entfernungen und macht die Erreichbarkeit der Gemeinden leichter. Sie erhöht aber in schwindelerregendem Maße die Enteignung der Leute. In Lateinamerika sind ähnliche Effekte in Argentinien, Ekuador und Bolivien ganz klar zu beobachten. Ich glaube nicht, dass man von ökonomischem Fortschritt reden kann ohne über die Entwicklung menschlicher Würde zu sprechen.

Sind Sie immer noch der Meinung, dass eine der wesentlichen Ursachen der gewalttätigen Zerstückelung der Gesellschaft, welche das neoliberale Modell produziert, die Distanz zwischen Politik und Ökonomie auf der einen und der Ethik auf Macht und Kontrolle. Deshalb ist in diesem System der Raub notwendig und um zu rauben ist es, wie wir erleben, oft notwendig zu töten. Es gilt das Bewusstsein der Bevölkerung über die Notwendigkeit einer sozialen Transformation zu erweitern. Diese Haltung des Bewusstseins beginnt jetzt zu wachsen.

Die Welt kann also nicht nur von den Regierungen und Kräften verändert werden, welche die Macht bilden. Um sie zu ändern, ist es nach ist aus der Ableitung der Erfahrungen der Zapatisten sofort möglich, andere soziale Beziehungen zu gestalten, ohne die Macht zu erobern.

Nach dem Evangelium und den Reden Jesu kommen die Veränderungen von den Armen nicht von den Mächtigen. Gibt es eine Bewegung wird die Macht gezwungen, gegenüber den Forderungen von unten nachzugeben. Jetzt beginnt die Stimme der Bauern und der Indigenen sich zu erheben. Es ist nicht nur das Resultat der negativen Erfahrung mit diesem System. Was heute erstaunlich ist, ist der Ausdruck von Zusammenarbeit und Solidarität zwischen der “ersten” und der “dritten” Welt. Dies betrifft sowohl die Auslandsverschuldung wie den Widerstand gegen Krieg. In der Weltgeschichte gab es noch nie eine so große und starke Bewegung der Menschheit, die Krieg ablehnt und Frieden will. Wir können also in diesem Augenblick nicht nur die Notwendigkeit der Veränderung wahrnehmen, sondern können sie auch angehen.

In den Jahrzehnten Ihrer Erfahrung der Verkündung des Evangeliums und Stellungnahme für Ärmsten, haben Sie persönlich über zweitausend Gemeinden aufgesucht, in denen zum größten Teil Indigenos wohnen. Haben die Indigenos "Schutz” nötig?

Gegenüber diesem System haben nicht nur die Indigenos, sondern wir alle Schutz nötig. Gerade nach dem Zelebrieren von fünfhundert Jahren sogenannter Entdeckung Amerikas, haben die Indigenos Bewusstsein darüber gewonnen, dass sie Subjekte ihrer Geschichte sind. Und von daher kam das Erfordernis und der Schrei nach einer Veränderung der Gesellschaft. Es war nicht nur eine angestrebte verkündete Veränderung, es war eine Veränderung, die unter ihnen bereits stattfand. Die Projekte und Angelegenheiten, welche die Indigenos und Bauern unter sich zu realisieren begannen, zeichnete schon eine andere Logik als die des Systems aus. Es war keine individualistische, sondern eine kommunitäre Logik.

Hat sich in Mexiko bezüglich der Menschen- und sozialen Rechte mit dem Niedergang der Pri und der Regierung Fox etwas verändert?

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Die vier Gemeinden, die sich bewaffneten, begannen Kaffee anzubauen. Doch wer bestimmt in der Welt den Preis für Kaffee? Die Produzenten bestimmen ihn nicht und auch nicht das Land in dem die Produzenten leben. Der Preis wird bestimmt durch die internationalen Gesetze des Marktes. Wenn die Gesetze des Marktes sich dahin änderten, dass sie die Würde der Menschen respektieren, könnte man sagen, dass sich wirklich etwas geändert hat. Wir können heute feststellen, dass sich einige Perversionen der Regierung geändert haben: an erster Stelle sei zu erwähnen, dass die Indigenos angehört wurden, wenn auch die  von Regierung und EZLN unterschriebenen sogenannten Abkommen von San Andrés nicht respektiert wurden. Trotzdem haben die Indigenos von Chiapas die Abmachungen eingehalten obwohl sie von der Regierung nie offiziell verabschiedet wurden. Sie haben mit der Veränderung der Dienstleistungen gegenüber der Gesellschaft und nicht gegenüber der Macht begonnen. Und dieser Wandel hat sich nicht nur Chiapas, sondern auch in anderen Teilen Mexikos vollzogen- ja sogar jenseits der nationalen Grenzen. Staaten wie Oaxaca, Chihuahua und Puebla haben die Änderungen, welche von den “Komitees der guten Regierung” ausgingen bemerkt und es gab eine wirkliche Verhaltensänderung gegenüber der Bevölkerung. Das ist eine Herausforderung gegenüber der offiziellen Regierung,da es sich um Territorien handelt, die den Ethnien und der indigenen Bevölkerung zugesprochen werden. Es ist eine Veränderung die gerade begonnen hat und droße Hoffnungen für die Zukunft verspricht.

Ihr Urteil über die Siedlungen der Caracoles (andere Bezeichnung für Maya) ist also positiv?

Es ist bisher zu kurze Zeit vergangen, um ein Urteil abzugeben aber die Veränderungen sind zu sehen. Die Leute erleben konkret welche Aufmerksamkeit eine andere Regierungsform den von ihnen gestellten Fragen widmet im Gegensatz zur offiziellen Regierung. Der Unterschied ist enorm. Auf der einen Seite steht die Herrschaft der ökonomischen Interessen auf der anderen der Wille, der Bevölkerung zu dienen. Ja, ich denke man kann das positiv beurteilen. Bis jetzt.

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Im April haben einige Mitglieder der Prd, der mexikanischen Mittelinkspartei, Zwischenfälle in der Karawane der Zapatisten provoziert, wobei es 29 Verletzte gab. Sie wurde von den autonomen Gemeinden der Region Los Altos anlässlich des Jahrestages der Ermordung Zapatas organisiert. Ist es Absicht, einen Krieg unter den Armen zu schüren.

Die Armen leben in einem permanenten Kriegszustand, nicht nur wenn sie zu den Waffen greifen, sondern auch wenn sie beispielsweise Repressionen zu erleiden haben. Arm zu sein ist ein Zustand, über den der Arme nicht entscheidet. Er ist das Resultat der Unterdrückung durch das System. Dieses System ist äußerst aggressiv. Deshalb leben die Armen im ständigen Krieg gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Mangel an Brüderlichkeit, die sie zu erleiden haben. Diese Situation betrifft auch diejenigen, welche auf der Seite der Armen stehen, weil sie für das System gefährlich sind. In Lateinamerika gibt es genügend Beispiele von solchen Menschen, die wegen ihrer Parteinahme sterben mussten. Nicht alle von ihnen gehörten der unteren Schicht in der sozialen Hierarchie an.

In der Gemeinde Polhó, wo das Blutbad von Acteal stattfand, leben 2500 Einwohner und 5000 “Desplazados” (von ihrem Land vertriebene Indigenos, d.Ü.). Das rote Kreuz war dort von 1998 bis 2003, dann ist es dort weggegangen. Gibt es in Chiapas keinen Krieg mehr?

Über den Krieg habe ich vordem gesprochen. Sicherlich wäre es notwendig, dass das Rote Kreuz anwesend wäre. Es gibt zu viele “Desplazados”. Das Rote Kreuz sagt aber, dass die Kräfte nicht ausreichten, um überall dort zu sein, wo es nötig wäre. Die Verantwortlichen halten es also wahrscheinlich für gerechtfertigt, dass die Helfer irgendwo anders nötiger sind.

Unser Freund und Mitarbeiter Hermann Bellinghausen, der seit Jahren für die Tageszeitung La Jornada als Korrespondent in Chiapas arbeitet, wurde des öfteren bedroht. Wem macht die Wahrheit über Chiapas Angst?

Ja, die Wahrheit macht Angst. Nicht nur in Chiapas, sondern beispielsweise auch im Irak. Das was Sie über Bellinghausen berichten, gilt auch für diejenigen, die über den Irak die Wahrheit sagen. Es ist das System, das die Wahrheit fürchtet. Verantwortliche journalistische Berichterstattung ist gefährlich. Die Wahrheit zu sagen ist gefährlich. Auch bei Jesus ist es so gewesen.

Gut, aber manchmal hat das System auch Name und Vorname…

Ja, das System hat manchmal auch Name und Vorname.

Sie haben die Zapatisten aus der Nähe kennengelernt. Können Sie sich erklären, warum sie eine so große Bedeutung in den Bewegungen der ganzen Welt haben?

Nein, ich kann es nicht erklären. Ich wohne hier unten. Das müssten eigentlich Sie erklären können. Wenn ich über eine Wahrnehmung sprechen sollte, ist es die, dass es zum ersten Mal in Lateinamerika eine Revolution gegeben hat, die von Indigenos getragen wurde. Es wäre zweitens anzumerken, dass die Zapatisten nicht versuchten und nie beschlossen die Macht zu übernehmen. Die Logik der anderen lateinamerikanischen Bewegungen war an diesem Punkt eine andere: Da unsere berechtigten Forderungen nicht gehört werden, müssen wir die Macht erobern und Gerechtigkeit walten lassen. Das war nie die Logik der Zapatisten. Der Gedanke der Zapatisten zielt darauf ab, der ganzen Bevölkerung die Situation bekannt zu machen, um die zivile und politische Teilnahme zu stimulieren. Dies mit dem Ziel einer autonomen Übergangsregierung, welche die Demokratie stärkt. Das ist das, was wir momentan hier unten  mehr oder weniger erleben. Vielleicht ist deshalb die Bewegung von Chiapas nicht nur in Mexiko, sondern auch in anderen Teilen der Welt interessant geworden. Da ist z.B. die Autonomiefrage und man kann sich also fragen, was konkret Autonomie in der Schweiz, in Belgien, in Irland bedeutet. Von Chiapas wird eine Frage gestellt, es ist die nach der Globalisierung, denn der Aufstand der Zapatisten begann symbolisch am 1, Januar 1994 als das Nafta-Abkommen in Kraft trat.

(Übersetzung “É morto Samuel Ruiz”,Roberto Greco)

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