Reisen in Tunesien

Im dradio Reisewarnungen Tunesien. Die News berichten, dass jetzt die letzten Touris ins sichere Homeland ausgeflogen wurden. Die Reisekonzerne haben die Revolte noch nicht als Attraktion mit im Programm.

Die Schwäbische Zeitung weiß folgendes zu berichten:

“Ellwangen / gr 10 000 Touristen sollen im Moment noch in Tunesien sein – aus Ellwangen ist wohl niemand dabei. Rita Messer vom Büro „Reisen und Mehr“ hat für drei Kunden storniert. Sie hatten schon im November gebucht und wollten die Pfingstferien auf der Halbinsel Djerba verbringen. Angesichts der Demonstrationen und der unsicheren politischen Lage haben sie jetzt storniert.”

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“Bei Markus Häcklein von der Reisewelt im Einkaufszentrum ist Tunesien eher ein Reiseziel für den Sommer. Er hatte keine Anfragen und keine Buchungen für den nordafrikanischen Staat. Genauso geht es Erika Lösch vom Reisebüro Mack. Bei frühlingshaften Temperaturen biete sich Tunesien eher zum Golfen als zum Baden an, sagt sie. Wer Sonne und Wärme wolle, gehe nach Ägypten.” (Schwäbische Zeitung)

Und was für ein Reiseziel: Tunesien, Land der Sonne mit einem Regime aus den besten Zeiten des Neokolonialismus während des kalten Krieges. Korrupt, tyrannisch, stumpfsinnig und paranoid, verwandelte es innerhalb von zwanzig Jahren das Land in ein Gefängnis. Während die Bevölkerung darbte, jegliche Opposition unterdrückt wurde, Pressefreiheit nicht existierte, Künstler, Blogger, Rapper und viele andere mehr als Staatsfeinde betrachtet wurden, plantschten die Kinder westlicher Mittelstandsfamilien unbekümmert in den Swimmingpools der Hotelappartements an den Stränden des Billigtiefpreisurlaubslandes Tunesien. Hier die Diktatur des Ben Ali Clans, dort die Diktatur der Ignoranz von Neckermann und Co.

::: Hallo GF-Community, :::

wollte mal fragen ob ihr mit dem Urlaubsziel Tunesien schon irgendwelche guten/schlechten Erfahrungen gemacht habt? Also soweit ich weiß benötigt man einen gültigen Perso und Reisepass. Aber die Story mit der Deviseneinfuhr verstehe ich nicht ganz, so wie ich denke darf man Euros unbegrenzt einführen nur TD (Tunesischer Dinar) wollen die nicht haben!?. Ein weiterer Punkt wäre, wie es dort mit der Kriminalität und Entführung ausschaut. Sollte man bestimmte Gebiete meiden oder kann man bedenkenlos überall hingehen? So jetzt mal zu dem wichtigen Teil… Kann man dort gut Party machen oder ist die Stimmung dort eher gedrückt ? So weit ich weiß geht’s in die Stadt „Sousse“. War vll jmd schon mal vor Ort und kann evtl. etwas spannendes berichten ? Naja ich warte einfach mal ab, was die GF-Community so auf Lager hat 🙂 Aber bitte nicht einfach iwelche Links posten, ich dachte eher so an eigene Erfahrungen…

Mfg

Georgia09

beantwortet von vollimleben am 13. Mai 2009 13:42

War schon 7x in Tunesien, davon 3x in Sousse. Zu beachten gibt es einiges, auch zu Deinem Schutz. Wenn du aus dem Taxi steigst, kommt immer einer an, der in „deinem“ Hotel arbeitet und dir billige Händler in den Souks zeigen will. Er weiß auch welches Hotel. Das hat ihm dein Taxifahrer durch Zeichensprache verraten. Nie auf der Straße Getränke kaufen, auch nicht in ungeöffneten Flaschen, sind alle schon lange abgelaufen. Abends nie alleine in die Städte fahren, oder eine Wüstentour machen. Nicht oben Ohne am Pool liegen oder mit Badeklamotten einkaufen oder ins Restaurant. Keine Gebäude fotografieren, an denen Fahnen angebracht sind, ansonsten sind die Tunesier sehr nett und hilfsbereit. Schönen Urlaub.

محمد البوعزيزيMohamed Bouazzi war einer dieser billigen Händler in den Souks von Sidi Bouzid. Er starb am 4. Januar 2011 im Verbrennungs- und Mohamed BouaziziTraumacenter des Krankenhauses von Ben Arous. Seine Selbstverbrennung am 17. Dezember zündete die Lunte der sozialen Protestbewegung, die zur Jasminrevolution führte und am 14. Januar den Diktator Ben Ali veranlassten, das Land fluchtartig zu verlassen. Der 26jährige Mohamed Bouazzi wählte diesen Weg, da ihm wegen fehlender Verkaufslizenz Wagen und Waren beschlagnahmt wurden. Seine Beschwerde bei der Stadtverwaltung blieb erfolglos und er wurde anschließend auf der Polizeiwache misshandelt.

Dies ist sicherlich, selbst für westeuropäische Breiten, nicht ungewöhnlich und die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazzi nur erklärbar aus der Situation des Landes. Sein letzter Facebookeintrag offenbart etwas von dem Gefühl einer Jugend, deren Perspektive jeglicher Hoffnung auf Besserung beraubt ist.

“Mutter, ich werde auf Reise gehen, verzeih mir. Tadle mich nicht, es hilft nichts. Verzeiht, wenn ich den Worten meiner Mutter nicht gehorche. Es ist nicht meine, sondern die Schuld dieser Zeit. Ich werde gehen und nicht wieder zurückkommen. Schaut, ich schreie und weine nicht. Tadel ist nicht hilfreich in diesem Land des Verrats am Volk. Ich bin angewidert bei all dem was geschieht. Ich reise und frage mich, wer mich in der Reise des Vergessens führen wird.”

Tunesien Urlaub kann aufgrund Reisewarnung kostenlos storniert werden

Die westliche Welt tut so, als ginge sie die Entwicklung in Tunesien nur insoweit etwas an, als dass es jetzt angezeigt sei, die heilige Kuh der parlamentarischen Demokratie auf*s moralische Panel zu heben. Sie zeigt dort ihr wahres Gesicht, wo sie um die ureigensten Interessen kreist: das Geschäft.

Am Tag der Flucht Ben Alis schreibt TopNews.de:

Der Sprecher des Deutschen Reiseverbandes versicherte zudem, dass die Urlauberhotels fern von den Auseinandersetzungsherden lägen und geplante Ausflüge zu unruhigen Orten entweder komplett gestrichen oder anders gestaltet worden seien. Dennoch bezeichnete er die Lage in Tunesien als “sehr angespannt”.

Sicherlich, die Anspannung, welche den dünnen Faden der sozialen Friedhofsruhe in Tunesien reißen ließ, ist der Besonderheit eines Landes geschuldet, dessen jüngste Geschichte Modernisierung und außergewöhnliche Reformen kannte. Sie waren Errungenschaften des antikolonialen Kampfes während und nach dem 2. Weltkrieg. Als am 7. Nov. 1987 Zine El-Abidine Ben Ali gegen das Regime Bourguiba putschte, übernahm er die gesellschaftlichen Fortschritte des Landes aus seiner sozialistischen Phase. Dazu zählten ein ausgezeichnet entwickeltes Schulsystem, das Gleichstellungsgesetz sowie ein modernes Abtreibungsgesetz. Die gut ausgebildete Jugend erfuhr die letzten Jahre einen Prozess der Deklassierung, die sich in erhöhter Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeit ausdrückte. Es ist keine Seltenheit, dass Jugendliche mit einer akademischen Ausbildung in Tunesien als ambulante Händler arbeiten müssen, um sich und ihre Familien durchzubringen. Es ist eine der Bedingungen, die Jugendliche auch in den Selbstmord treiben.

Fortress Europe

“Ich werde auf Reise gehen”, schrieb Mohamed Bouazzi seiner Mutter. Der immer bessere Ausbau der Festung Europa hat auch die Option zu emigrieren, um der sozialen Misere zu entkommen, fast unmöglich werden lassen. Dafür sorgte die neoliberale Politik der offenen Grenzen für Kapital und Waren und der strikten Reglementierung und Kontrolle der von ihr verursachten Migrationsströme. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wurde das Mittelmeer zum riesigen Massengrab. Seit 1988 sind in den Meerengen mehr als fünfzehntausend Jugendliche, beim Versuch die Festung Europa zu erreichen, umgekommen. Das berichtet der italienische Blogger Gabriele del Grande. Die europäischen Länder schweigen großzügig, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, die im Zusammenhang mit den Migrationsströmen in Nordafrika stehen. Sie unterstützen und finanzieren despotische Regimes, von denen sie als Gegenleistung das repressive Vorgehen gegen Flüchtlinge erwarten.

Es bleibt abzuwarten, ob die tunesische Entwicklung zu einem gesellschaftlichen Neuanfang führt, der an den antikolonialen Kämpfen und ihren Erfolgen anknüpft. Zumindest scheint es, dass Tunesien momentan nicht auf halbem Weg stehen bleiben will.

(Günter Melle)

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