Sabina Capone, PANEACQUA
Übersetzung von Roberto Greco
Was geschah in Leros während des zweiten Weltkriegs? Das, was sich in Kefalonia und auf weiteren ägäischen Inseln nach dem 8. September 1943 ereignete… Eine Begegnung mit Anastasios Kanaris, dessen geduldige Arbeit jenen feinfühligen und resistenten Stoff schafft, den man Gedächtnis nennt.
Leros ist nicht nur eine Insel, wo es der Ägäis gelingt, ruhig in die Tiefe vieler Meeresbuchten, die sich wie Seen ausbreiten, einzudringen. Leros ist nicht nur ein Ort der Sommerfrische für viele Griechen, die hierher von den umliegenden größeren Inseln kommen. Leros ist auch was anderes, vor allem für uns Italiener. Das bemerkt man augenblicklich, wenn man im Hafen von Lakki ankommt. Er liegt in einer geschützten Bucht, die “See” genannt wird. Mussolini errichtete dort in den Jahren des Faschismus eine der bedeutendsten Marinebasen des Dodekanes. Er setzte damit die Kolonisierung fort, die 1912 vom Königreich Italien betrieben wurde. Die großen Baumalleen und die zum Teil mit Hilfe der EU restaurierten Gebäude versetzen auch den zerstreutesten Besucher mit einem Schlag ins Zeitalter des Faschismus.
Das ganze 19. Jahrhundert hindurch haben die Italiener in diesem Landstrich zu schaffen gehabt. Einige Gebäude in Lakkí zeugen davon in selbstherrlichem Stil. Es sind Gebäude, welche die kolonialen Anmaßungen des Kolonialismus ausdrückten und schließlich zum neuralgischen Kommandozentrum unserer Truppen wurden. Das Obristenregime machte aus ihnen Gefängnisse und die griechische Regierung verwendete sie bis in die 80iger Jahren als größte und unmenschlichste Psychiatrie des Landes. Die Marinebasis des Königreichs Italien mit ihrem weiten Strand und den zahlreichen Gebäuden drückte so der Insel ein Jahrhundert lang ihren Stempel auf. Um der tragischen historischen Bestimmung der Gebäude ein Ende zu setzen, kamen erneut die Italiener. Eine Equipe von Fachkräften, koordiniert durch das Zentrum für Forschung und Studien mentaler Gesundheit in der Region Friuli Venezia Giulia, realisierte zusammen mit den Einwohnern von Leros ein europäisches Projekt, um der Gewalt und den Entbehrungen ein Ende zu setzen, denen über dreitausend Internierte ausgesetzt waren.
Die Beziehung zum süßen und bitteren Leros wird in der charakteristischen Langsamkeit der weniger vom Tourismus berührten Inseln empfunden. Sie wird noch intensiver, wenn man auf den kleinen, verlassenen Stränden auf Entdeckung geht. Entlang der von den Ziegen gespurten Pfade, liegen Überreste der Befestigungsanlagen und der von Bomben zerstörten Geschütztürme. Aber auch ein Spaziergang auf den vertrockneten Feldern mit ihren Salbeisträuchern, führt zu einer verlassenen Kaserne, die nunmehr den Ziegen als Stall dient. Drinnen steht starker Geruch und in den halbdunklen Räumen findet man Ruhe vor der brennendheißen Sonne. Bis heute sind noch Zeugnisse der absurden Kriegsrhetorik zu finden. An einer Kaserne, die an der Bucht Blefouti liegt, ist in großen Lettern geschrieben: “Wir sind stolz an diesem Ort des Kampfes, der Opfer und der Pflicht zu dienen.” Die bittere Schönheit des Ortes kontrastiert zu unserem Bild, das sich auf wenige Kenntnisse aus Geschichtsbüchern stützt.
Was ist hier in Leros während des zweiten Weltkrieges geschehen?
Das, was sich in Kefalonia und auf weiteren ägäischen Inseln nach dem 8. September 1943 ereignete. Die Italiener haben nur wenig historische Kenntnisse von jenen Ereignissen, auch wenn abertausende Soldaten und ihre Familien davon berührt waren. Allein auf Leros waren achttausend italienische Militärs stationiert und die zwei Monate andauernde Schlacht, an der Seite der Engländer gegen die Deutschen, war eine der heftigsten im Dodekanes.
In Lakki ist der “Merikia War Tunnel” zu besichtigen. Das Museum ist in einem freigelegten Tunnel eingerichtet, in dem die Italiener den größten Teil ihres Waffenarsenals lagerten. Es wurde während der Bombardements 1943 schwer beschädigt. Der restaurierte Tunnel bewahrt eine Vielzahl Fundstücke und Zeugnisse aus der Schlacht von Leros. Am Ende des Tunnels wird den Besuchern ein Film vorgeführt, nachdem sie Ausstellungsstücke wie Minen, Helme, Uniformen und die Fotografien hunderter italienischer, englischer und deutscher, in dieser Schlacht gefallener Soldaten abgeschritten haben. Angesichts der Bilder des Films aus diesen tragischen Tagen, verbleibt man wie gelähmt. Er zeigt große Rauchwolken über den kleinen Dörfern, Bombenflugzeuge, welche die Insel überfliegen, in langen Reihen marschierende Soldaten. In der Stimme des Erzählers liegt die ganze Verzweiflung dieser Schlacht. In diesem Augenblick versteht man griechisch, auch wenn man die Sprache nicht beherrscht.
Zufällig aber willkommen, um die notwendige Verbindung zur Geschichte herzustellen, war die Begegnung mit Anastasios Kanaris. Wenn ich darüber nachdenke, war er ein Zeichen des Schicksals. Anastasios ist der Vater meines Gastwirts. Er hat in Räumen des Gasthauses, das in Platanos liegt, ein kleines Museum eingerichtet. Das kleine Gasthaus ist ruhig, von dort ist die Aussicht auf die Festung von Leros, auf die alten Mühlen und die Bucht Panteli ausgezeichnet.
Eines Abends, nachdem Signor Kanaris eine Besuchergruppe Italiener verabschiedet hatte, lud er mich, mit der sprichwörtlichen Höflichkeit, welche Personen seines Alters auszeichnen, in sein Museum ein. Die beiden kleinen Zimmer sind überfüllt mit Zimelien, Stahlhelmen, Munitionsresten, Granaten und Geldstücken und vor allem mit Schriftdokumenten und Fotografien. Anastasios war neun Jahre alt als die Schlacht um Leros begann. Das Bombardement durch Flugzeuge begann am 26. September 1943. Es war die Antwort auf den Entschluss des italienischen Kommandos, unter Führung des Konteradmirals Luigi Mascherpa, auf Seiten der englischen Alliierten zu kämpfen. Es folgten lange Tage eines ständigen Bombardements, welche die italienischen Flugabwehrkräfte dezimierten. Anastasios erinnert sich sehr gut daran, zieht es aber vor mit mir darüber zu sprechen, was er in den letzten dreißig Jahren getan hat. Alle Gegenstände und Dokumente des Museums wurden von ihm selbst aber auch von anderen Inselbewohnern sichergestellt. Die Einmaligkeit dieses Museums besteht in dem Werk seines “Kurators”. Die Sammlung wird tagtäglich reicher durch die Zeugnisse vieler Italiener, die es in diesen dreißig Jahren hierherzog, um die Geschichte ihrer Väter und Großväter zu rekonstruieren. Es ist eine schmerzhafte Geschichte, die allzu oft vergessen wird.
Anastasios hütet auch eine sehr schöne und umfassende Sammlung an Fotografien dieser Zeit, die davon zeugen, wieviel Nähe zwischen uns und diesem Landstrich existiert. Da gibt es den Eseltreiber mit seinem Esel Ardito, Opfer der deutschen Bombardierungen. Es gibt Protraits aus dem Jahr 1941 und eine ungewöhnliche Fotografie auf der junge Matrosen zu sehen sind, die sich auf einer Blumenwiese ausgestreckt haben. Ich bin beeindruckt. Auf der Rückseite des Fotos steht: “Auf einer Wiese, 25. Februar 1940 – Noch erlaubt die Neutralität Unbeschwertheit. In Leros ist das Frühjahr schon angekommen”. Danach wird eine andere Zeit kommen, eine die sich mit Krieg ankündigt, eine Zeit des Todes, der Gewalt und der Tragödien.
In einem großen Album sind kleine handschriftliche Zettel, Briefe in unsicherer Blockschrift oder mit Schreibmaschine aber auch unlängst verfasste E-mail abgelegt. Es sind Zeugnisse, die sich an jene Vergangenheit richten. Fast die gesamte Korrespondenz ist auf italienisch geschrieben und darunter sind viele Briefe des Dankes an Anastasios für das, was er tut. Fleißig legt er über alles Rechenschaft ab und versucht so daran zu erinnern, was nach dem Inferno von Leros geblieben ist.
Einige der Briefe berichten vom Wiederauffinden von Freunden und Verwandten. In einigen Fällen gelang es Kanaris herauszufinden, dass einigen Vermissten die Flucht und unverhoffte Rettung gelungen ist. Und so schreiben ihm einige meiner Landsleute: “Ich hoffe wieder nach Leros zurückkehren zu können…” “Lieber Signor Anastasios, durch einen Freund, der die Ferien in Leros verbrachte, habe ich von ihrem kleinen Museum erfahren…” “An jenem 26. September 1943 begann die Schlacht gegen die Deutschen. Sie endete am 16. November 1943. Das waren fast zwei Monate totales Inferno. Ich möchte nichts über die große Opfer erzählen…” “Im Laufe meines Lebens (schreibt der Sohn eines Soldaten) konnte ich nie nach Leros kommen…” Und Anastasios sammelt, sucht und antwortet. Seine geduldige Arbeit schafft jenen feinfühligen und resistenten Stoff, der sich Gedächtnis nennt. Es ist dieser Stoff, von dem wir Italiener uns abgewandt haben und den wir immer mehr vernachlässigen.
An einem Nachmittag als ich eine verlassene Festung besichtigte, begegnete ich einem Jungen, der dort mit seinem Motorrad einen Weg hinunter zum Meer suchte. Sein Gruß gab mir zu verstehen, dass er Italiener ist. Wir wechselten einige Worte und er sagte dann zu mir: “Sie lebten nicht schlecht hier, die Italiener”. Ich antwortete, dass die wenigen Überlebenden sich bis heute an das Inferno erinnern. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, sagt mir Anastasios: “Vergiss niemals die süße Insel Leros und auch nicht ihre Bewohner”. Wenn ihr also nach Leros kommt, geht bei Anastasios vorbei, der euch von einer vergessenen Tragödie erzählen wird.
Angesichts der Geschichte ist es äußerst erfreulich, dass es seit zehn Jahren eine gut funktionierende Städtepartnerschaft zwischen Leros und der deutschen (bayerischen) Gemeinde Aschheim bei München gibt.
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