Der Stellenwert der europäischen Bewegungen gegen Krise und ökonomische Dogmen
Franco Berardi Bifo/Carta: (5.10.2010) aus dem Italienischen übersetzt von R.Greco
Was sich derzeit in Frankreich ereignet, ist für alle von großer Bedeutung. Von dieser breiten, radikalen und entschlossenen Bewegung, die sich nunmehr seit Juni entwickelt, könnte die erste erfolgversprechende Antwort auf eine etablierte europäische Finanzdiktatur kommen, die mit der griechischen Krise und dem Diktat des Direktoriums Trichet-Merkel-Sarkozy ihren Anfang nahm. Das nahm sich vor, einheitliche Absprachen zu treffen, um im Namen des Wettbewerbs, Gehälter und die Gesellschaft anzugreifen.
Die französische Bewegung gegen die Verlängerung der Arbeit und Erhöhung des Rentenalters hat seinen 4. Tag der Generalmobilisierung erreicht. Sie ist erstarkt und wagt die Auseinandersetzung mit der Regierung Sarkozy. Es ist das erste Mal in Europa, das eine breite Bewegung das zentrale Dogma der Verlängerung der Lebensarbeitszeit ins Visier nimmt. Es gilt als das Sancta Sanctorum des ökonomischen Konformismus in der spät-liberalen Epoche.
Dieses Dogma wird so gesungen: Wegen der Überalterung der Gesellschaft und der Geburtenrückläufigkeit geraten die europäischen Länder in eine dramatische Lage, in der wenige Junge immer mehr müßiggängerische Alte ernähren müssen. Um dies abzuwenden muss die Arbeitszeit der Alten verlängert werden. Diese Hurenkacke nennen sie Pakt der Generationen. Sie zielt darauf ab, dass wir daran glauben, dass längeres arbeiten im Sinne der neuen Generationen notwendig wäre.
Diese Philosophie, die von den Linken und den Gewerkschaften mitgetragen wird, geht von einer verkehrten, sogar falschen Prämisse aus. Zunächst, weil die durchschnittliche Produktivität in den vergangenen 50 Jahren um das fünffache gestiegen ist. Insofern ist die Reduktion der Arbeitseinheit kein Problem. Wesentlich weniger Junge können daher, wenn dies nur das Problem ist, völlig ruhig das Notwendige für wesentlich mehr Alte produzieren. Hinter dem Kartenspiel verbirgt sich jedoch eine völlig andere Absicht. Es geht darum, eine Erhöhung der Arbeitszeit durchzusetzen (mehr Überstunden, volle Auslastung der Anlagen, Samstagarbeit, eine unbestimmte Vertagung des Rentenalters) und folglich eine Reduktion der Beschäftigung.
Mit der demographischen Fabel wird darauf abgezielt, die Jungen unter den Bedingungen der Unterbeschäftigung zu halten. Man zwingt sie so jede prekär und unterbezahlte Arbeit zu akzeptieren, während die Alten gezwungen werden, über das bisher bestehende Rentenalter hinaus zu arbeiten.
Die Zielsetzung einer Arbeitszeitverlängerung hat überhaupt nichts mit einem produktiven Erfordernis zu tun. Sie ist lediglich die Konsequenz der Finanzregeln, die wie ein Käfig wirken: Sie verwandeln Reichtum in Armut und Macht in Angst. Die Deregulierung gilt nur dann, wenn sie dazu dient, die Gehälter anzugreifen. Wenn es jedoch gilt, die Ausbeutung zu erhöhen, sind die Regeln präzise gefasst und indiskutabel.
Das haben die französischen ArbeiterInnen und Studenten sehr gut begriffen. Sie haben verstanden, dass eine Verlängerung der Arbeitszeit in einer Phase der rückläufigen Beschäftigung nichts anderes bedeutet als den Jungen die Bedingungen von Prekarität und Arbeitslosigkeit aufzuzwingen.
Wenn es der französischen Gesellschaft gelingt, dieses europäische Dogma zu brechen, wird eine neue Phase de gesellschaftlichen Entwicklung eingeleitet.