In Zeiten der Krise holen Gewerkschaftsführungen alte Keulen aus der Schublade, Ausschlüsse und Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegen Oppositionelle. Dagegen wächst der Widerstand bisher vor allem innerhalb des DGB.
Aktuell betroffen sind oppositionelle GewerkschafterInnen, die als IG-Metall-Mitglieder im Daimler-Werk-Berlin Marienfelde auf der Liste der Alternativen offenen Liste haben, aber auch KollegInnen in Stuttgart und Kassel. Seit 2007 wehren sich in dem Berliner Werk KollegInnen gegen Arbeitshetze und andere Unzumutbarkeiten, die KollegInnen aus anderen Werken, die kurze Zeit bei Daimler arbeiteten, als besonders gravierend bezeichneten.
Offener BriefAn
den 1.Vorsitzenden der IG Metall, Berthold Huber,
den 2. Vorsitzenden der IG Metall, Detlef Wetzel
Wilhelm-Leuschner-Str. 79, 60329 Frankfurt am Main
den Bezirksleiter Berlin-Brandenburg-Sachsen der IG Metall, Olivier Höbel;
den 1. Bevollmächtigten der IG Metall Berlin, Arno Hager
Alte Jakobstr. 149, 10969 Berlin
den Bezirksleiter Baden-Württemberg der IG Metall, Jörg Hofmann
Stuttgarter Str. 23, 70469 Stuttgart
den 1. Bevollmächtigen der IG Metall Stuttgart, Hans Baur,
Theodor-Heuß-Str. 2, 70174 Stuttgart
Liebe Kollegen,
die meisten von uns sind nicht Mitglieder der IG Metall, und wir wollen uns auch nicht unbefugt in die internen Angelegenheiten der IG Metall einmischen. Wir verstehen uns nicht erst seit heute als gewerkschaftsnahe Menschen aus Wissenschaft, Bildung, Medien, Rechtswesen und anderen Bereichen der Kulturproduktion, und deshalb kann es uns angesichts sich weltweit und national verschärfender Verteilungs- und Ordnungskämpfe nicht egal sein, was die IG Metall als größte und kampfstärkste Gewerkschaft im wirtschaftlich stärksten Land der EU für einen Kurs einschlägt und was sie dabei mit sich selber und aus sich selber macht.
Konkret: Wir sind besorgt wegen der bei Daimler-Benz in Berlin, Kassel und Stuttgart-Sindelfingen, möglicherweise auch noch anderswo, nach den Betriebsratswahlen 2010 eröffneten Ausschlussverfahren gegen Mitglieder der IG Metall, die als GewerkschafterInnen auf Listen kandidiert haben, die mit der von der Organisation unterstützten Liste konkurrierten. Diese konkurrierenden Listen haben z.T. beachtliche Stimmenanteile gewonnen und damit gezeigt, dass sich bestimmte Belegschaftsgruppen mit ihren Meinungen und Interessen durch sie besser vertreten fühlen als durch die offizielle IG-Metall-Liste.
Soweit wir sehen können, waren Aufstellung und Erfolg der konkurrierenden Listen motiviert durch Unzufriedenheit mit einem als zu kooperativ angesehenen Kurs der Betriebsratsspitze und teilweise auch durch besondere Unzufriedenheit von Beschäftigten mit Migrationshintergrund. Die Kandidaten der konkurrierenden Listen befürchteten auch, dass sie bei einer Personenwahl im Großbetrieb den Kürzeren ziehen würden, weil sie, anders als die langjährigen Amtsinhaber, nicht im gesamten Betrieb bekannt sein konnten, oder dass es zur Personenwahl wegen konkurrierender Listen (CMV u.a.) gar nicht kommen konnte und sie auf der offiziellen Gewerkschaftsliste zu weit unten platziert waren, um faire Wahlchancen zu haben.
Diese Sachverhalte erinnern uns in beklemmender Weise an Ausschlüsse aus der IG Metall und anderen Gewerkschaften in den 70er und frühen 80er Jahren. Damals wurden zum Beispiel die Mitglieder der „plakat“-Gruppe bei Daimler in Stuttgart um Willi Hoss und Hermann Mühleisen wegen oppositioneller Listen aus der IG Metall ausgeschlossen; ähnliches geschah Kandidatinnen und Kandidaten bei Daimler in Hamburg-Harburg und an anderen Orten. In allen Fällen erwiesen sich die Ausschlüsse wegen Kandidatur auf konkurrierenden Listen als Fehler, und diese Fehler wurden auch oft durch die Wiederaufnahme der Ausgeschlossenen in die IG Metall revidiert.
Durch die damaligen Ausschlüsse
* beraubte sich die Gewerkschaft selber eines Teils ihrer
aktivsten Mitglieder in den Betrieben,* band sie ihre eigenen Kräfte in mühsamen intern-juristischen
und politischen Auseinandersetzungen – Kräfte, die dann für
die wichtigen Auseinandersetzungen etwa in Tarifrunden
fehlten,* gefährdete sie teilweise auch ihre eigene Legitimation als
rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien
verpflichtete Organisation.
Der Erfolg der Gewerkschaften, allen voran der IG Metall, in den Kämpfen gegen Arbeitgeber und Bundesregierung um die 35-Stunden-Wochen in den 80er Jahren war nur möglich, weil zu diesem Zeitpunkt die meisten zuvor ausgeschlossenen Metaller wieder aufgenommen waren, womit kämpferische Aktive zurück gewonnen wurden und auch kritische Intellektuelle besser für die Unterstützung des Streiks und seiner Ziele zu motivieren waren.
Uns scheint heute ein Rückfall in die 70er Jahre zu drohen, wenn den Anträgen zum Ausschluss der Minderheitsbetriebsräte bei Daimler stattgegeben wird. Die Minderheitsbetriebsräte wollen eine bessere Interessenvertretung für die Beschäftigten. Und dafür wollen sie Mitglieder und Funktionäre der IG Metall bleiben können. Was hindert die IG Metall, dies zuzulassen? – Gewiss: Es ist prinzipiell richtig, auf eine einheitliche Gewerkschaftsliste bei Betriebsratswahlen zu dringen, damit dem Arbeitgeber einheitlich-solidarisch entgegengetreten werden kann. Aber dort, wo es, vor allem in großen Betrieben, mit dieser Einheitlichkeit innerhalb eines Betriebsrats und einer Belegschaft ohnehin nicht gut bestellt ist, wo unterschiedliche Interessen und Deutungen auch zwischen IG-Metall-Funktionären im Betrieb sich zu Positionen und Gruppen verfestigen, ist die Zulassung mehrerer IG-Metall-Listen im Betrieb ein vernünftiger und demokratischer Weg.
Und dieser Weg ist auch keinesfalls utopisch: Im BMW-Motorradwerk in Berlin-Spandau wird er seit den 80er Jahren beschritten. Regelmäßig treten dort zwei IG-Metall-Listen, eine eher sozialpartnerschaftliche und eine eher konfliktbereite Liste, gegeneinander an. Seither gab es zweimal Mehrheitswechsel. Die Mitglieder beider Gruppen verstehen sich als gute IG-Metaller und sind von der Organisation anerkannt. Die Organisation ist dabei Orientierungspunkt und auch Mediator.
Dieses Modell BMW Berlin könnte durchaus auch als Modell und Anregung für die Lösung der Konflikte der Metall-Betriebsräte im Daimler-Konzern gelten: Auch Gewerkschaften sind demokratische und pluralistische Organisationen, die in ihrem Inneren unterschiedliche Positionen anerkennen müssen und denen die offene Austragung von Kontroversen nur gut tun kann. Innergewerkschaftliche Demokratie heißt auch, dass die Gewerkschaft als Organisation verschiedenen Meinungen ein Diskursfeld eröffnet.
Die Tolerierung unterschiedlicher Interessen, Deutungen und Ansichten durch die Organisation hat ihre Grenze, wenn die Partei des Arbeitgebers eingenommen wird. „Gelbe“, von der Gegenseite Gekaufte, haben in der Gewerkschaft keinen Platz. Rechtsextremisten, die die Universalität der Menschenrechte leugnen, ebenso wenig. Streikbruch muss mit Sanktionen belegt werden.
Aber: Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die für eine entschiedenere Interessenvertretung in ihrem Betrieb eintreten, sollten, wenn sie dafür keinen anderen Weg als die Kandidatur auf einer eigenen Liste sehen, nicht aus der IG Metall ausgeschlossen oder auch nur mit Funktionsverbot bestraft werden können.
Mit solidarischen Grüßen
Unterschriften
Helmut Born, Betriebsratvorsitzender, ver.di Düsseldorf,
Mitglied im Landesbezirksvorstand ver.di NRW
Dieter Braeg, ehem. BR-Vorsitzender der Fa. Pierburg Neuss
Prof. Dr. Frank Deppe
Klaus Dörre, Hochschullehrer
Dr. Michael Fichter
Bernd Gehrke, ver.di, Teamer
Wolfgang Günther, Gewerkschaftssekretär ver.di Südhessen
Kirsten Huckenbeck, Dozentin, Redaktion express
Dr. Otto Jacobi
Anton Kobel, ver.di, Redaktion express
Prof. Dr. Timm Kunstreich, Redaktion Widersprüche
Prof. Dr. Mohssen Massarrat
Günter Pabst, Stadtverordneter, ver.di-Mitglied
Dr. Nadja Rakowitz, ver.di, Redaktion express
Wolfgang Repenthin
Dr. Thomas Sablowski, Politikwissenschaftler
Werner Sauerborn, ver.di
Wolfgang Völker, ver.di, Redaktion Widersprüche
Edgar Weick
Klaus Winger, Geschäftsführer Berufsbildungswerk
Prof. Dr. Carsten Wirth
Martin van de Rakt, ver.di
Gerald Wolf, ver.di, Kabarettist
Mag Wompel, Redaktion Labournet Germany
Prof. Dr. Bodo Zeuner, Politikwissenschaftler